Wie man sich in schweren Zeiten Zukunft schaffen kann
Will man aus dem Teufelskreis aus schlechter Stimmung und Zukunftsangst ausbrechen und Neues wagen, braucht man dazu passende Fähigkeiten und Hilfsmittel. Die Szenario-Technik kann als Methode dienen, die Zukunft zu schmieden. Sie hilft, gut vorbereitet den Zukunftstrip anzutreten, damit Überraschungen nicht zum Albtraum werden.

Ute Hélène von Reibnitz

        


 
ukunftsangst ist sehr weit verbreitet, von Arbeitslosen bis zu Managern, von Jugendlichen, die keine Lehrstelle finden bis zu älteren Menschen, die nicht wissen, ob ihre schmale Rente langfristig reicht. Viele sehen die künftigen Veränderungen eher negativ als positiv und die Stimmung ist mehr lähmend als unternehmerisch.

Jeder Psychologe wird bestätigen, dass das, was wir erleben, oft nur der äußere Spiegel unseres Inneren ist oder wie die Amerikaner sagen »what you think, is what you get«. Wer morgens mit dem falschen Bein aufsteht, wird den Rest des Tages nichts Positives erleben. Und wenn wir diesen Negativkreislauf nicht durchbrechen, dann wird jeder Tag nur die schlimmsten Befürchtungen erfüllen.

»Nun denken Sie mal positiv!«
Es liegt also an uns, den Circulus vitiosus zu unterbrechen und etwas Neues zu wagen. Aber wie geht das? Mit dem Appell »nun denken Sie mal positiv« oder »lassen Sie sich etwas einfallen« ist es nicht getan. Jeder, ob Topmanager oder Arbeitsloser, der an der bestehenden Situation etwas ändern will, braucht Fähigkeiten und Hilfsmittel hierzu.

Welche Fähigkeiten werden benötigt? Zunächst einmal die Fähigkeit einer kritischen Analyse der Istsituation. Als nächstes braucht man Veränderungsbereitschaft, Lust auf Zukunftsgestaltung und eine pragmatische Methode, die hilft, Zukunftsalternativen zu generieren und seine eigene Zukunft zu schmieden. Eine Methode, die genau diese Anforderungen erfüllt, ist die Szenario-Technik. Es gibt sie bereits seit 30 Jahren und sie wurde permanent weiterentwickelt und veränderten Anforderungen angepasst.

Analyse der Istsituation
Der erste Schritt dieser Methode beginnt mit einer Analyse der Istsituation. Die kritische Analyse der Istsituation ist etwas, was die meisten relativ leicht packen, da kritisches und analytisches Reflektieren uns oft mehr liegen als kreatives und vorausschauendes Denken. Trotzdem sollten hier einige Spielregeln beachtet werden:

:: Ein gewisser Abstand zum Problem, um neutral und objektiv zu analysieren.
:: Der Blick auf das Problem von mehreren Seiten oder Menschen hilft Einseitigkeit und Subjektivität zu vermeiden (Mehraugenprinzip, Vermeiden des blinden Flecks).
:: Alle Daten, um die Analyse so sachlich und transparent wie möglich zu machen.

Wenn in diesem Zusammenhang das Wort Problem benutzt wird, so kann dies auch Aufgabe oder Thema heißen (nicht alles, was wir ändern wollen, muss ein Problem sein). Aufgabe, Thema oder Problem können sehr unterschiedlich definiert werden; die Szenario-Methode ist so flexibel, dass sie sich auf verschiedenste Komplexitäten einstellen kann: von einem Einzelnen über ein Unternehmen oder eine Situation in einer Branche oder in einem Land.

Wenn man sich über das Thema und seine Strukturen, seine Stärken und Schwächen klar geworden ist, kann man einen Katalog von Fragen aufstellen, die man später auf Basis der Szenarien, also der Zukunftsbilder, beantworten möchte. Hier wird ein entscheidender Unterschied zwischen der Szenariomethode und anderen Verfahren deutlich: Statt Fragen, die die Zukunft betreffen, auf Basis von Gegenwarts- oder schlimmer noch Vergangenheitsdaten zu beantworten (was leider sehr oft geschieht), kann man diese zwar nach der Istanalyse sammeln, aber beantworten sollte man sie erst, wenn Zukunftsannahmen vorliegen. Warum? Wenn wir uns umschauen, dann wird erkennbar, dass Prinzipien oder Paradigmen, die gestern noch unumstößlich waren, heute schon nicht mehr relevant sind.

Hierzu einige Beispiele: Bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts galt die Formel hohes Wirtschaftswachstum = niedrige Arbeitslosenquote und schlechtes Wirtschaftswachstum = hohe Arbeitslosenquote. Die Kombination gutes Wirtschaftswachstum und hohe Arbeitslosenquote war ausgeschlossen und genau das war die Realität in den letzten Jahren, wenn das Wirtschaftswachstum besser war als jetzt.

Ein anderes Beispiel: Dass Deutschland gemeinsam mit Russland und Frankreich gegen die US-Invasion im Irak Front macht, war früher undenkbar. Von Frankreich und Russland waren die USA schon immer Querschüsse gewohnt, aber dass sich Deutschland, der bisher treue und manchmal unkritische Bündnispartner gegen die USA stellt, war für die Amerikaner völlig überraschend.

Fazit ist, dass man nie aus der Vergangenheit die Zukunft ableiten soll. Der richtige Umgang mit der Vergangenheit ist, aus ihr zu lernen, aber nicht ihre Gesetzmäßigkeiten auf die Zukunft zu übertragen. Jetzt werden sicher einige einwenden, dass sich die Geschichte wiederholt (Völkermorde und Kriege gehen weiter), aber dies kann man unter der Rubrik »nichts oder zu wenig aus der Vergangenheit gelernt« einordnen.

Wechselwirkungen erkennen
Der zweite Schritt beschäftigt sich mit der Analyse der externen Istsituation. Hier fragt man sich, in welches Umfeld das Thema eingebettet ist, welche Faktoren und Kräfte einen Einfluss darauf haben. Nimmt man das Beispiel eines Unternehmens, dann wird schnell klar, dass es nicht unabhängig ist, sondern in Wechselwirkung mit externen Faktoren wie Kunden, Wettbewerbern, Lieferanten, Wirtschaft, Technologie, Gesellschaft und Gesetzgebung steht. Daher muss man sich diese Faktoren anschauen, ihre Istsituation analysieren, ihre Einflüsse und Wechselwirkungen erkennen und daraus erste Schlüsse ziehen.

Wichtig ist hierbei auch zu erkennen, wer die treibenden und wer die eher getriebenen Faktoren sind. Treibende Faktoren oder neudeutsch driving forces sind solche, die die Spielregeln und das Spiel bestimmen. Beim Fußball ist das der Spielmacher, der bestimmt, ob man offensiv oder defensiv spielt. Wenn man weiß, wer in seinem Umfeld die treibende Kraft ist, dann kann man sich darauf einstellen und die Verhaltensweisen des Spielmachers geschickt für die eigene Strategie nutzen.

Zukunftsmöglichkeiten erforschen
Nachdem man sich zwei Schritte intensiv mit der Gegenwart beschäftigt hat, kommt jetzt der spannende Part der Projektionen, wo man sich mit der Zukunft oder besser den Zukünften auseinandersetzt. Warum Zukünfte? Weil wir unsicher sind, gibt es nicht die eine wahre Zukunft, sondern immer mehrere Zukünfte. Das mag zwar für viele unbefriedigend sein, weil man doch zu gerne wüsste, wie die Zukunft aussieht. Andererseits ist es gut, dass wir es nicht wissen, weil wir sonst vielleicht fatalistisch würden und unsere Gestaltungsmöglichkeiten nicht mehr wahrnehmen könnten. Jetzt geht es also darum, mit Neugier und Offenheit Zukunftsmöglichkeiten zu explorieren. Dabei ist es wichtig, nicht nur in wünschenswerten Kategorien zu denken, sondern völlig neue und ungewöhnliche Denkdimensionen zuzulassen.

Ein Unternehmen sollte beispielsweise daran denken, dass sein Markt nicht nur wächst, sondern eventuell schrumpft oder durch etwas Neues substituiert wird. Die Produkte Autokredit und Autoversicherung werden immer weniger von den Finanzdienstleistern Banken und Versicherungen angeboten, sondern integriert in den Komplettservice des Mobilitätsanbieters. Die Funktion gibt es nach wie vor, aber viele Banken und Versicherungen haben diese Produktsparte aufgegeben.

Ein Mensch, der seine berufliche Zukunft entwickeln will, sollte nicht nur daran denken, welche Karrieresprünge vor ihm liegen, sondern sich auch die Frage stellen »und was ist, wenn ich meinen Arbeitsplatz verliere?« Das heißt nicht, dass man Schwarzmalerei betreiben sollte, sondern es bedeutet, die ganze Palette der Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Nur wenn man in der Lage ist, die Umfeldentwicklungen in Alternativen zu sehen, dann ist man später auch fähig damit umzugehen. Wenn man allerdings von vornherein Zukunftsmöglichkeiten, die eher unangenehm sind, ausschließt, dann ist man auch später nicht in der Lage, sie zu meistern.

Ein einfaches Beispiel hierzu: Wenn man vor einer Prüfung steht und davon ausgeht, dass diese sehr schwer sein wird, dann wird man sich üblicherweise gut darauf vorbereiten. Damit hat man die Chance, diese Prüfung zu bestehen, unabhängig davon, ob sie schwer oder leicht ist. Geht jemand allerdings davon aus, dass die Prüfung leicht ist, bereitet sich nur oberflächlich darauf vor, dann besteht er sie nicht, wenn sie schwerer ist als erwartet. So ist das auch mit dem Vordenken in Alternativen: es kann auf keinen Fall schaden, sich mit harten oder unangenehmen Alternativen vor ihrem Eintreten auseinander zu setzen; dann ist man später in der Lage, sie zu meistern und vielleicht sogar noch einen neuen Nutzen daraus zu ziehen.

Alternativen zu Zukunftsbildern bündeln
Nachdem man also die verschiedensten Veränderungen im Umfeld in Alternativen vorgedacht hat, kommt die Alternativenbündelung. Man muss die vorher entwickelten Annahmen so bündeln, dass sogenannte konsistente, also widerspruchsfreie und in sich stimmige Szenarien oder Zukunftsbilder entstehen.

Warum müssen Szenarien widerspruchsfrei und stimmig sein? Weil ein in sich widersprüchliches Szenario von den Bearbeitern oder Betroffenen weder akzeptiert noch mit Konsequenzen versehen werden kann. Sind Szenarien dagegen in sich sehr logisch, auch wenn sie Aspekte enthalten, die vielleicht bedrohlich sind, dann nehmen die Betroffenen diese Szenarien sehr ernst und lernen, damit umzugehen.

Dieser Schritt ist sehr analytisch und logisch und man darf nicht in die Denkfalle von schwarz-weiß oder optimistisch-pessimistisch geraten; hier geht es nur darum, dass eine stringente Logik erhalten bleibt. Zum besseren Verständnis ein Szenariogerüst aus der Bankenwelt: Boomende Wirtschaft, Liberalisierung der europäischen Bankenwelt (klingt nach positivem Szenario) und verschärfter Wettbewerb durch Non- und Nearbanks (wegen Liberalisierung). Dieses Szenario enthält eine Mischung aus positiven und negativen Elementen für eine Bank und ist gleichzeitig sehr logisch und konsistent.

Szenarien erleben
Der nächste Schritt heißt Szenariointerpretation und ist mehr spielerisch und lustbetont. Hier nimmt man die nach Logikkriterien zusammengefügten Szenariobausteine und schmückt sie aus zu einem Text, der nicht nur logisch, sondern auch interessant und spannend ist. Szenarien sollen den Leser in neue Zukunftswelten entführen und sie die Veränderungen von morgen spüren lassen.

Hinzu kommt, dass der Einzelne oder die Gruppe von Menschen, die sich auf die Zukunftsexkursion begibt, die Szenarien nicht nur rational erfassen, sondern auch spüren und erleben sollte. Dabei sind alle Mittel recht, die die Phantasie des Menschen anregen: man kann mit Bildern, Collagen bis hin zu Pantomimen und Sketchen arbeiten. Wichtig ist, dass alle Beteiligten sich in ihr Szenario einleben, in dem sie jetzt die nächsten Schritte arbeiten. Woran merkt man, dass eine Gruppe ihr Szenario lebt? Wenn sie sich so verhält wie die Szenarioaussage.

In einem Fall hatte eine Gruppe ein Szenario mit dem Tenor Festung Europa, die sich konsequent gegen die Außenwelt abgrenzt und das taten sie auch: niemand konnte in ihre aus Pinwänden errichtete Wagenburg hinein und sie wollten auch keinen Kontakt zur anderen Gruppe oder zur Außenwelt. Eine andere Gruppe, die das globalisierte Szenario lebte, einigte sich auf Englisch als Arbeitssprache und gab sich internationale Namen (da waren Vornamen von Japan bis Indien, Russland, Europa und USA im Raum). Wenn ich so etwas sehe und höre, dann weiß ich, das jeweilige Szenario ist den Teilnehmern unter die Haut gegangen und wird gelebt.

Chancen und Risiken analysieren
Wenn alle Teilnehmer mit Leib und Seele in ihrer Zukunftswelt eingephast sind, dann muss man sich fragen, was diese Szenarien für das Thema bedeuten und daher heißt die nächste Etappe Konsequenzanalyse. Was passiert in dieser Phase: man fragt sich, welche Chancen und Risiken in den jeweiligen Szenarien für das Ausgangsthema drinstecken und wie man damit umgehen sollte.

Des Weiteren wird jetzt der im ersten Schritt formulierte Fragenkatalog wieder herausgeholt und die Fragen werden im Kontext der jeweiligen Szenarien beantwortet. Dabei gibt es zwei interessante Effekte: Vergleicht man die Antworten beider Szenarien, dann gibt es einiges, was nur unter einem Szenario machbar ist, während der größte Teil der Antworten durchaus unter beiden Szenarien realisierbar ist, lediglich die Gründe, warum die gleiche Antwort unter dem einen oder anderen Szenario passt, sind unterschiedlich. So ist die Internationalisierung eines Geschäftes unter dem globalisierten Szenario ein Muss, während sie unter einem regionalen und rückläufigen Markt die einzige Chance ist, das Geschäft zu erweitern, dann allerdings nicht als Global Player, sondern als im Zielmarkt regional adaptierter Anbieter.

Gegen Störereignisse immunisieren
Der nächste Schritt, die Störereignisanalyse, beschäftigt sich mit plötzlich auftretenden Ereignissen, die Strategien und Pläne zunichte machen können. Wir wissen nicht erst seit dem 11. September 2001, dass es immer wieder kleinere und größere Störereignisse oder Katastrophen geben kann. Verhindern kann ein Einzelner oder ein Unternehmen nur ganz wenige solcher Ereignisse, aber uns immunisieren gegen die schlimmsten Auswirkungen solcher Ereignisse, dass können wir.

Viele Ereignisse kündigen sich mit schwachen Signalen bereits vorher an, nur in den wenigsten Fällen will man das auch wahrnehmen. Viele Gesetzesänderungen, über die manche Unternehmer jammern, kommen nicht wie der Blitz aus heiterem Himmel, sondern sind schon vorher in verschiedensten Expertengremien auf europäischer Ebene diskutiert worden. Manche Produkte, die vom Markt zurückgeholt werden, hätten gar nicht erst im fehlerhaften Design auf den Markt kommen dürfen, wenn die internen Prüfsysteme richtig funktionierten.

Was heißt das konkret für den verantwortungsbewussten Menschen? Augen auf und nicht zudrücken, wenn irgendwo etwas hakt und nicht rund läuft. Das kleine Sandkorn von heute kann morgen einen Sandsturm auslösen.

Erkenntnisse verdichten
Als letzter Schritt kommt der sogenannte Szenario-Transfer. Hier versucht man, alle Erkenntnisse, die man im Prozess gewonnen hat, so zu verdichten, dass man eine Leitlinie erhält, die gern als Auslegerboot dargestellt wird. Im Rumpf befinden sich alle Strategien, die man unter beiden Szenarien realisieren kann. In den jeweiligen Auslegern sind solche Aktionen, die nur unter einem Szenario greifen. Damit kann man unter sich veränderndem Wind und Wetter erfolgreich sein Ziel ansteuern. Das klingt vielleicht etwas abstrakt, kann aber an folgendem Beispiel verdeutlicht werden.

Stellen Sie sich vor, Sie wollen im nächsten Urlaub eine Wüstendurchquerung oder eine Dschungelexpedition machen. Da werden Sie sicher nicht unvorbereitet losstarten, sondern – ganz im Gegenteil – eine Reihe von Vorbereitungen treffen, von der Verbesserung Ihrer körperlichen Fitness bis zu Gesundheitschecks, Impfungen, Routenplanung und Materialzusammenstellung. Sie haben geklärt, was im Falle einer Panne oder eines Unfalls gemacht werden muss, welche Sicherheiten es gibt etc. Erst wenn alles gut vorbereitet und geklärt ist, machen Sie sich auf den Weg. Sie haben jetzt die Voraussetzungen für das Gelingen Ihrer Expedition geschaffen, aber Sie wissen nicht genau, was Sie alles unterwegs im Detail an positiven wie negativen Überraschungen erwartet.

Und genauso sollten sie Ihren Zukunftstrip angehen: bestens vorbereitet, physisch und psychisch fit und voller Neugier und Vorfreude auf das, was sie entdecken werden. Dann kann jede Überraschung nicht als Albtraum, sondern als wertvolle Erfahrung erlebt werden. Wie man sagt »das Glück trifft nur den vorbereiteten Geist«, so kann die Zukunft nur für den zu einer spannenden und bereichernden Erfahrung werden, der sich vorher zukunftsfit gemacht hat.  

 

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