Das Ende der Planbarkeit: Führung in Zeiten des Umbruchs
Mitarbeiter zu führen war noch nie ganz einfach. Der Spagat zwischen Vorgaben von »oben«, den Bedürfnissen und Vorstellungen der Mitarbeiter und den sich ständig ändernden Anforderungen und Wünschen der Kunden – all das gab es schon immer. Was also sollte neu sein? Nun, was sich geändert hat, ist die Änderungsgeschwindigkeit.

Jürgen W. Goldfuß

        


 
ffektivere Kommunikationsmittel erlauben heute schnellere Reaktionszeiten – und fordern von jedem Beteiligten dementsprechend schnelleres Reagieren. Hier setzt ein Problem ein, das viele von uns zwar erkennen – aber verdrängen: die steigende Änderungsgeschwindigkeit. Wir sind in der Rolle des Indianers, der am Ziel seiner ersten Eisenbahnfahrt gefragt wird, wie es ihm gefallen habe. »Oh« sagte er, »es war ganz toll. Ich bin schon hier, aber mein Geist ist noch zu Hause«.

Irgendwie finden wir uns in der Rolle des Indianers wieder. Wir kennen uns gut aus mit dem, was wir bisher gelernt und erfahren haben, aber mit dem, was auf uns einstürmt sind wir doch oft überfordert. Stichworte wie Globalisierung, Internationalisierung, Fusionen, freundliche oder feindliche Übernahmen sind nicht mehr nur Schlagworte aus Zeitung oder Fernsehen, sondern betreffen Führungskräfte heute rascher und direkter als befürchtet. Entscheidungen müssen heute schneller getroffen werden – mit zwangsläufig größerer Unschärfe.

Nichts ist mehr wie es war
Der fünfte Kondratieff-Zyklus, eine der langen Wellen der Konjunktur, der sein Wachstum im Wesentlichen aus der Informations-Technologie bezog, nähert sich seinem Ende. Der sechste Zyklus braucht noch einige Jahre bis sich das erhoffte Wirtschaftswachstum (vielleicht) einstellt. Verharmlosend von einer vorübergehenden Krise zu sprechen, wäre fahrlässig. Wir befinden uns in einer Umbruchsituation, in der anschließend nichts mehr so sein wird wie es einmal war. Einige Beispiele, die aufzeigen, welche Änderungen wir gerade erleben:

Die bestehenden Sicherungssysteme im Sozial- und Gesundheitsbereich sind aus bekannten Gründen in der gewohnten Form nicht mehr finanzierbar. Kindergärten zu Altersheimen, ein Slogan der uns noch lange beschäftigen wird.

Im Handel werden sich Transaktionen immer mehr über elektronische Absatzkanäle abspielen, die klassischen Läden werden nur in stark veränderter Form ihre Rolle im zukünftigen Wirtschaftsleben spielen können.

Politische Entscheidungen werden immer häufiger außerhalb der betroffenen Länder getroffen, Entscheidungen über Investitionen und finanzielle Transaktionen immer öfter an den Wall-Streets oder deren Nebenzimmern.

Selbst in der Kriminalprävention und der Strafverfolgung zeigt sich ein gravierender Umbruch: die Todesstrafe hat auf Selbstmordattentäter keine abschreckende Wirkung. Die alten Werkzeuge greifen nicht mehr. Hier sind andere, kreativere globale Lösungen erforderlich.

Der Umbruch ist auch im Arbeitsleben spürbar. War das Erwerbsleben in der Vergangenheit noch durch Planbarkeit gekennzeichnet (die Ausbildung, dann zwei bis drei geplante Wechsel aus Karrieregründen, anschließend die Pensionierung), so werden sich zukünftig unterschiedliche Phasen von Erwerbstätigkeit, Arbeitslosigkeit und freiberuflicher Tätigkeit abwechseln – und als normal betrachtet werden. Die Patchwork-Karriere, für viele noch eine unvorstellbare Zukunftsvision.

Hinzu kommt, dass unsere Industriegesellschaft immer weniger Arbeitskräfte benötigt, um dieselbe Leistung zu erbringen. Arbeitsplätze werden aber nicht nur in sterbenden Branchen abgebaut. Selbst in Bereichen, die mit steigenden Gewinnen die Aktionäre beglücken, findet die Reduzierung von Arbeitsplätzen statt.

Auf Grund der höheren Änderungsgeschwindigkeit sinkt die Halbwertszeit des Wissens. Erfahrungen werden für manchen eher zum Hindernis als zur Voraussetzung für den nächsten beruflichen Schritt. Wichtiger als erlerntes Know-how wird die Fähigkeit, neues Know-how schneller zu erwerben, altes zu vergessen.
Die Bezahlung von Mitarbeitern (und Führungskräften) wird sich in Zukunft eher an deren Wert für das Unternehmen als am Alter des Arbeitsvertrages orientieren.

Führen und Motivieren in Zeiten des Umbruchs bereitet denjenigen Schwierigkeiten, die nicht bereit sind, sich offensiv den neuen Herausforderungen zu stellen und sich und ihre Mitarbeiter auf den Zeitraum vorzubereiten, in dem alle Beteiligten zukünftig ihr Einkommen zu sichern suchen.

Alles muss auf den Prüfstand!
Allen wird jetzt die oft zitierte Flexibilität nicht nur verbal sondern real abgefordert. Die anstehenden Änderungen lösen allerdings nicht bei jedem begeisterte Zustimmung aus. Vorhersehbar, denn es will zwar jeder, dass alles besser wird, aber keiner will ernsthaft, dass sich etwas ändert.

In ihrem Buch Das Sandburg-Prinzip bringen Kenneth Blanchard und Terry Waghorn das Thema mit einem einprägsamen Beispiel ins Bewusstsein:
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen am Meeresstrand in ihrer selbstgebauten Sandburg. Die nach der Ebbe folgende Flut sorgt allerdings dafür, dass von ihrem Bauwerk nicht viel übrig bleibt. Der Mensch ist lernfähig. Am nächsten Tag bauen Sie ihre Sandburg etwas höher auf, unerreichbar für die Wellen. Regen und Wind allerdings lassen auch dieses Bauwerk erodieren. Das einzig sichere »Bauwerk«, das ihnen erlaubt, auf die Unbill der Natur (des Marktes) zu reagieren, ist das Nomadenzelt. Es bietet ihnen die Möglichkeit, jederzeit schnell und mobil zu reagieren. Bei Sturm hinter dem Deich aufgebaut sorgt es für Schutz vor dem Wind. Bei Sonnenschein vor dem Deich aufgebaut erlaubt es eine wunderbare Weitsicht über das Meer.

Auf ein Unternehmen übertragen bedeutet das, Festzementiertes einzureißen, Blockaden und Sperren zu entfernen, Organigramme und Abteilungen ernsthaft in Frage zu stellen. Alles muss auf den Prüfstand. Historisch Gewachsenes bietet, wie in der Natur, keine Garantie für das Überleben.

Keine bequemen Wahrheiten, die eine voraus denkende Führungskraft Mitarbeitern (und Kollegen) verkündet. Mit spontanen Beifallskundgebungen ist kaum zu rechnen.

Vielleicht wird der Verkünder der unbequemen Botschaft sogar als Nestbeschmutzer bezeichnet, dem nichts heilig ist in einem Unternehmen, das voller Stolz auf eine (vergangene) Tradition zurückblickt.

Deshalb ist es für eine Führungskraft in solch gravierenden Veränderungssituationen wichtig, bei allen Beteiligten rechtzeitig Verständnis für die neue Situation, den Umbruch, wachsen zu lassen. Das gelingt am ehesten durch gemeinsame Diskussionen über bisher erlebte wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen, über die Einbeziehung der Mitarbeiter in die erforderlichen Denkprozesse.

Oft wird den Mitarbeitern allerdings nicht zugetraut, solche Gedankengänge nachzuvollziehen. Vorsicht: Mitarbeiter sind nicht dümmer als ihre Chefs, sie sind lediglich in einer anderen Position, aus der heraus sie verständlicherweise einen anderen Blickwinkel besitzen.

Die Kernaufgabe einer Führungskraft in schwierigen Zeiten lautet deshalb: Betroffene zu Beteiligten machen und die Beteiligten dazu zu bringen, sich ihre eigenen Gedanken über ihre persönliche Zukunft zu machen.

Führungskräfte, die aus falsch verstandener Fürsorge erst mit fertig getroffenen Entscheidungen vor ihr Publikum treten sind häufig überrascht und enttäuscht von der fehlenden Akzeptanz im Mitarbeiterkreis. Mitarbeiter lassen sich heute, durch die vielen Negativbeispiele in Funk und Fernsehen verunsichert, nicht mehr von den Worthülsen ihrer Vorgesetzten überreden, geschweige denn überzeugen.

Deshalb: Setzen Sie das TOK-System ein
Das TOK-System bietet Mittel und Wege, wie Mitarbeiter dazu gebracht werden können, auch unangenehme Änderungen zu unterstützen. TOK steht für Transparenz, Offenheit, Konsequenz.

Transparenz: Sorgen Sie für ausreichende, regelmäßige Information nicht nur am und über den Arbeitsplatz, sondern über das wirtschaftliche Umfeld der eigenen Branche. Gerade bei denjenigen Mitarbeitern, die ihre Informationen lediglich aus Zeitungen mit großen Überschriften oder aus der Gewerkschaftszeitung beziehen fehlt häufig das Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge. Hier bietet sich Führungskräften eine herausfordernde Aufgabe, andere zum Mitdenken anzuregen. Machen Sie Ihre Mitarbeiter zu Mitdenkern, Sie werden zukünftig für jeden kreativen Kopf dankbar sein.

Offenheit: Sorgen Sie dafür, dass alle Bedenken, Befürchtungen und Fragen offen und angstfrei im Unternehmen diskutiert werden können. Es gibt noch nicht allzu viele Unternehmen, in denen eine angstfreie Kommunikationskultur herrscht. Eine Informationsgesellschaft ohne offene Kommunikation kann nicht funktionieren. Zur Offenheit gehört aber auch, dass ganz offen über die eventuellen Folgen nicht getroffener Entscheidungen diskutiert wird. Mitarbeiter, die regelmäßig mit Zahlen aus dem Unternehmen versorgt werden, neigen übrigens seltener zu einer oft von außen initiierten Trotzhaltung.

Konsequenz: Sorgen Sie dafür, dass getroffene Entscheidungen ohne Wenn und Aber durchgeführt werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass beim Auftauchen neuer Erkenntnisse und Fakten an einer Entscheidung festgehalten wird, nur weil sie einmal getroffen wurde. So wie beim Segeln ein Kurswechsel erforderlich sein kann, um den Wind zu nutzen, der näher an das Ziel bringt, so sind Entscheidungen keine Dogmen, an die man auf ewig gebunden ist. Eine Entscheidung ist lediglich ein zum Zeitpunkt der Entscheidung richtig getroffener Entschluss.

Bei der konsequenten Anwendung des TOK-Systems stellen Sie fest, dass Mitarbeiter bereit sind, auch unangenehme Entscheidungen mitzutragen, wenn sie sich als Teil des Entscheidungsprozesses empfinden. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Sie Ihre Glaubwürdigkeit als Führungskraft nicht vorher eingebüßt haben. Wenn Ihre Mitarbeiter Ihnen nicht vertrauen, dann helfen auch alle noch so gut gemeinten Ansätze nicht. Vertrauen ist wie ein Federkissen. Mit einem schnellen Schnitt ist es zerstört. Alle Federn wieder einzusammeln, das gelingt in der Praxis allerdings so gut wie nie.  

URL: http://www.perspektive-blau.de/artikel/0602b/0602b.htm