Deutschland und die nächste Technologiewelle
Ein Jahrhundert der Technik steht uns bevor. In allen Industrien und Lebensbereichen kommt es durch technologische Innovationen zu rapiden Veränderungen. Wie entwickelt sich die Forschung in den verschiedenen Technologiefeldern und wo wird Deutschland in diesem Wettlauf stehen? Zehn Thesen zur Zukunft der Technologien.

Karlheinz Steinmüller

        


 
edes Zeitalter ist durch ihre spezifische Technologie geprägt. So wie die Eisenbahn die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmte, so wurden ab etwa 1900 Elektrotechnik und Chemie zu Motoren der Weltwirtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg löste die Elektronik die Elektrik ab und gegen Ende des Jahrhunderts drückten dann PCs und Internet ihrer Zeit den Stempel auf. Wie sieht die nächste Technologiewelle aus?

1. Die nächste Technologiewelle rollt bereits an.
Roboter tauchen in Kinderzimmern und Seniorenheimen auf. Häuser ernten Sonnenenergie und Regenwasser. Biochips gestatten die schnelle Diagnose von Erkrankungen. Mikroskopische Fähren befördern Arzneimittel punktgenau ans Ziel. Die Bildschirme werden flexibel. Etiketten lassen sich per Funk lesen. Computer rechnen mit Photonen. Denkprozesse lassen sich in Echtzeit beobachten. Wasserstoff wird zum Energieträger. Die Grenze von Belebtem und Unbelebtem verwischt.
In den nächsten Jahrzehnten werden wir massive Technologieschübe in allen Bereichen erleben. Neben die Informations- und Kommunikationstechnologien treten die Bio- und Nanotechnologien als entscheidende Triebkräfte für die Wirtschaftsdynamik.

2. Deutschland verliert bei Forschung und Entwicklung an Boden.
Seit anderthalb Jahrhunderten zählt Deutschland zu den Vorreitern bei technologischen Innovationen. Doch es fällt immer schwerer, diese Position wenigstens auf einigen Feldern zu halten. Junge, hoch motivierte Forscher und etablierte Spitzenkräfte wandern ab, weil sie anderswo bessere Bedingungen finden. In manchen Disziplinen mangelt es schon heute an Nachwuchs. Die Universitäten laborieren an halbherzigen Reformen. Bund und Länder verhaken sich im Kompetenzgerangel. Gerade gegründete Hightech-Unternehmen verhungern aus Mangel an risikobereiten Kapitalgebern. Viel zu viele gute Ideen bleiben auf dem langen Weg von den Forschungslabors in die Märkte stecken. Und für die EU als Ganzes sieht die Situation eher noch trüber aus. Das ambitionierte Ziel, Europa bis 2010 zur innovativsten Region der Erde zu machen, gilt schon heute als grandios verfehlt. Global sind wir die Nachzügler.

3. Auch auf traditionell starken Gebieten sind wir herausgefordert.
Auf einigen Gebieten zählt Deutschland nach wie vor zur Spitze, etwa in der Fahrzeugtechnik, in der Umwelttechnik und bei regenerativen Energien, in der Medizintechnik. Aber selbst hier gibt es Alarmzeichen. Französische Autobauer zeigen ihren deutschen Kollegen, wie man Diesel-Feinstaubfilter auf den Markt bringt. Japanische Unternehmen engagieren sich verstärkt in Umwelt- und Energietechnik. Bei der molekularen Bildgebung – neuen medizinischen Diagnoseverfahren – haben wir den Startschuss verschlafen. Bei der Stammzellforschung haben wir uns von vornherein entschieden, das Feld anderen zu überlassen. Die Chinesen, künftig auch eine Forschungsgroßmacht, investieren hier massiv. Auch die Liste der Technik-Flops, die wir uns geleistet haben, wächst: Schneller Brüter, Transrapid, Cargolifter und beinahe auch Toll Collect. Mit den Forschungsausgaben pro Kopf liegen wir weit hinter den skandinavischen Ländern, Japan und der USA zurück. Manche Unternehmen überlegen inzwischen, ob sie nach der Produktion nun auch Forschungskapazitäten nach Asien verlagern.

4. Bildung, Forschung und Innovation entscheiden über die wirtschaftlichen Perspektiven.
Die Folgen eines Niederganges des Forschungsstandorts Deutschland kann man sich nicht dramatisch genug ausmalen. Einen Eindruck können vielleicht die Verhältnisse im letzten Jahrzehnt der DDR vermitteln, wo der Abstand zum »Weltniveau« stetig wuchs, »Spitzenleistungen« zwar gefordert, aber unter den sich verschlechternden materiellen Umständen kaum mehr zu erbringen waren – und wo viele hervorragende »Kräfte« das Land verließen. So banal es klingt: Angesichts von Alterung und Globalisierung kann der wirtschaftliche Niedergang nur durch massive Investitionen in Zukunft – in Bildung, Forschung, Innovationen – aufgehalten werden. Was wir heute nicht in den Aufbau unserer Wissenspotentiale stecken, wird uns morgen bei der Rente fehlen.

5. Forschung und Innovationen sind längst globalisiert
Wissenschaftliche Forschung fand schon immer in internationalem Austausch statt. Doch nun sprengt auch die Technologieentwicklung den nationalen Rahmen. Ein Viertel aller FuE-Ausgaben in Deutschland stammt von Unternehmen, die ihren Hauptsitz in anderen Ländern haben. Nicht nur Großkonzerne können zunehmend frei darüber entscheiden, wo sie ihre Forschungskapazitäten aufbauen. Und sie orientieren sich dabei daran, wo sie eine gute, vernetzte Forschungsinfrastruktur, eine gutes Innovationsklima, sinnvolle staatliche Rahmensetzungen und potentielle Märkte erwarten können.

6. Innovationen entwickeln sich heute aus dem Zusammenspiel von Spitzenforschung und Vorreiter-Märkten.
Die Zeiten, in denen es genügte, eine hervorragende Technik zu entwickeln, und die Nachfrage stellte sich dann schon ein, sind längst vorbei. Die Technik ist nicht mehr der Engpass. Die Industriechemiker haben es auf eine Formel gebracht: Früher verfuhren sie nach dem Prinzip »Molekül sucht Markt«, heute ist die potentielle Nachfrage der Ausgangspunkt »Markt sucht Molekül.« Und letzteres wird dann maßgeschneidert. Erfolgreiche Unternehmen überlegen daher, wo die Wünsche der Menschen, die Bedürfnisse einer Gesellschaft liegen. Sie schauen sich global nach Testfeldern um, nach Vorläufern künftiger Märke, frühen Nutzern, und sie finden diese fast regelmäßig außerhalb Europas. Ein weiterer Grund, wenigstens mit ein paar Entwicklungsabteilungen in Asien präsent zu sein.

7. Die alten Rezepte der Industrie- und Technologiepolitik helfen nicht weiter.
Was hat Deutschland als Forschungsland groß gemacht? Es waren ein verbreitetes Interesse an Wissenschaft und Technik, attraktive Bedingungen für Forscher von Weltklasse, die wie weiland Einstein angelockt wurden... Nach 1900 ist das Deutsche Reich frühzeitig auf die Professionalisierung der Forschung eingestiegen, die alte Bundesrepublik hat in ihren besten Zeiten die Bedeutung von Big Science erkannt und mit Großforschungszentren reagiert. Aber eine Großforschung in staatlichem Auftrag und eine Technologie- und Industriepolitik, die ihre nationale Klientel bedient, kann mit dem heutigen Innovationstempo nicht mehr mithalten. Heute sind fokussierte, industrienahe Spitzeninstitute auf Zeit oder mit entsprechend hoher Wandlungsfähigkeit gefragt. Forscher mit Beamten-Regellaufbahn werden leicht zu Forschungsbeamten. Auch auf diesem Gebiet leidet Deutschland – wie übrigens die EU als Ganzes – unter einer Art Sozialstaatssyndrom, das sich in langen und umständlichen Verwaltungsprozeduren ausdrückt, die eher das organisierte Mittelmaß begünstigen als wirklich herausragende Wissenschaftler zu fördern.

8. Ein attraktives Innovationsumfeld ist nötig.
Immerhin hat Deutschland in den letzten Jahren versucht, sich den Herausforderungen zu stellen. Kompetenznetzwerke und regionale Innovationscluster tragen zu einer besseren Verzahnung von öffentlich geförderter und industrieller Forschung bei. Und wir können von anderen Ländern lernen. In Skandinavien engagieren sich öffentliche Hand und Privatwirtschaft massiv in Forschung und Entwicklung, und sie orientieren sich dabei an gesellschaftlichen Bedürfnissen, die Vorreiter-Märkte erzeugen können. In den USA verschwenden die Forscher weitaus weniger Zeit auf Verwaltungstätigkeit – und sie wechseln viel rascher vom akademischen Bereich in die Industrie und zurück. Zudem herrscht jenseits des Atlantiks eine Mentalität, die die Bereitschaft, Risiken auf sich zu nehmen, belohnt. Vor allem aber braucht Forschung heute eine breite Wissenskultur. Finnland ist auch deshalb als Innovationsstandort so erfolgreich, weil die Kinder dort eine hervorragende Schulbildung erhalten.

9. Prioritätensetzung benötigt Foresight.
Deutschland hat nicht die Kapazitäten, um auf sämtlichen oder auch nur den meisten Gebieten global zur vordersten Forschungsfront zu gehören. Aber es muss auf zentralen Technologiefeldern – Informations-, Bio- und Nanotechnologien, Kognitionsforschung – mit Spitzenleistungen präsent sein und bleiben. Dazu ist es nötig, frühzeitig die aussichtsreichsten Technologiepfade und die interessantesten künftigen Anwendungsfelder zu erkennen und rechtzeitig auf sie zu setzen.

10. Dynamik und Globalisierung bieten uns Chancen.
Forschung ist ein schnelles Geschäft geworden. Innerhalb weniger Jahre können sich global Standorte verschieben. Heute Großbritannien, morgen Südkorea, und übermorgen? Wo die Gefahr einer schnellen Abwanderung besteht, gibt es aber auch die Chance, schnell attraktive Positionen aufzubauen – wenn die Mittel und der politische Willen und das geeignete Umfeld dazu da sind.  

 

Mit freundlicher Genehmigung der Z_punkt GmbH. The Foresight Company.
 

URL: http://www.perspektive-blau.de/artikel/0608b/0608b.htm