Tabuthema Scheitern und Werte in Veränderungsprozessen
Was sind typische Scheiterfaktoren, welche Handlungsfelder braucht es im Gegensatz dazu für gelingende Veränderungsprozesse und welche Rolle könnten dabei Business-Ethik-Standards spielen? Ein Blick über den Tellerrand.

Dagmar Untermarzoner

        


 
ktuelle Untersuchungen berichten vom häufigen Scheitern von Veränderungsprozessen. In einer Studie von Capgemini1 wurden 114 Führungskräfte österreichischer, deutscher und Schweizer Unternehmen zum Change-Management in ihren Unternehmen befragt. Als häufige Probleme nannten sie: Ineffizientes Arbeiten aufgrund der Unkenntnis über den Veränderungsprozess (82 Prozent Nennungen) oder unzureichender Informationen über das erwartete Ergebnis (41 Prozent). Auch die bewusste Opposition, sprich Widerstand, wird häufig beobachtet (77 Prozent).

Eine andere Sichtweise auf Scheiterfallen bekommt man, wenn man nicht Führungskräfte befragt, sondern die Praxis von Veränderungsprozessen selbst kritisch untersucht. Für Klaus Doppler2 liegt das zentrale Problem im unhinterfragten Anwenden des hierarchischen Modells, in dem die Betroffenen nicht oder nicht ausreichend beteiligt werden. Als Prozessprobleme sieht er weiters:
:: es wird zuviel auf einmal begonnen,
:: die angestrebte Lösung ist selbst Teil des Problems,
:: das Abwiegeln von Informationsbedürfnissen der Mitarbeiter führt zur Vermittlung von Wahrheit auf Raten,
:: ein Etikettenschwindel und eine Glaubwürdigkeitslücke des Managements.

Ich glaube gar nicht so sehr, dass Veränderungsprozesse wirklich scheitern, sondern vielmehr, dass sie einer Logik folgen, die bestimmte Opfer oder Probleme in sich selbst als eigentlich unproblematisch erachtet. Scheitern ist ja kein Phänomen an sich, sondern immer eine Bewertung aus einer bestimmten Perspektive des Beobachters.3
Ethisches Verhalten im Management gewinnt wieder an Beachtung als Gegengewicht zu einer Konzentration auf das Kennzahlendenken. Andere beschreiben im Management den Widerspruch zwischen den »Ich-Menschen« und den »Wir-Menschen«, wobei letztere als diejenigen gelten, die soziale Verantwortung und Engagement, Achten auf Würde und Respekt im Umgang miteinander ins Wirtschaftsleben integrieren.4

Was brauchen gelingende Veränderungsprozesse?
Das tabuisierte Scheitern – ein Beispiel von vielen: Ein Manager eines Produktionsunternehmens berichtet, dass die neue divisionalisierte Vertriebsstruktur zwar vollzogen sei, die meisten Mitarbeiter aber stark am Erfolg dieser Veränderung zweifeln – wie auch er selbst. Hat er die Zweifel kommuniziert? Das haben einige am Beginn der Restrukturierung versucht, die seien jedoch recht schnell aus den entscheidenden Kreisen draußen gewesen. Das sei für ihn ein deutliches Signal gewesen, dass Kritik nicht erwünscht sei. Was macht er nun? Wenn er ehrlich sein soll, er warte auf die nächste Restrukturierung mit dem neuen Eigentümer, die sich ja schon informell ankündige, da könne dann leicht wieder etwas Neues kommen. Die Mitarbeiter seien schon so abgestumpft.

Wir gehen von der Grundannahme aus, dass gelingende Veränderungsprozesse drei Handlungsfelder brauchen:
:: Kommunikation
:: Lernen
:: Steuerung⁄Entscheidungen

Kommunikation hat drei Aspekte:
:: dass von Beginn an mitgedacht und –geplant wird, mit wem wann und in welcher Form über die beabsichtigte Veränderung gesprochen wird,
:: dass in jeder Phase eines Veränderungsprozesses der aktuelle Stand – auch die noch ungelösten Fragen und Probleme – besprochen werden können,
:: dass die verantwortlichen Manager ins Gespräch mit den direkt und indirekt betroffenen Mitarbeitern gehen, dass sie also konkret erleb- und angreifbar sind.

Lernen hat die Funktion:
:: dass diejenigen, von denen neue Handlungsweisen erwartet werden, auch ausreichend Möglichkeiten zum Lernen haben – in einem angeleiteten Prozess, in dem für die neuen Rollen und Fähigkeiten sowohl neue Inputs als auch ausreichend Übungs- und Anwendungsmöglichkeiten angeboten werden,
:: dass das Denken in Veränderungsdimensionen selbst geschult wird, dass möglichst viele (auch Nicht-Manager) ein Grundwissen über strategisches Management, über Prozessdenken, über Strukturfragen und die Verknüpfung mit Personalmanagement erwerben können.

Steuerung bedeutet:
:: den Aufbau einer Prozessorganisation,
:: das Treffen von notwendigen Entscheidungen,
:: dem Veränderungsprozess die immer wieder notwendige Richtung geben,
:: Barrieren und Blockaden erkennen und Lösungen erarbeiten.

Scheiterfaktoren in Veränderungsprozessen
Im Folgenden beschreiben wir exemplarisch vier aus unserer Sicht besonders bedeutsame Scheiterfaktoren.

Scheiterfaktor 1: Lernen und Steuerung im Veränderungsmanagement entkoppeln

Inzwischen hat sich in vielen Unternehmen durchgesetzt, dass geplante Veränderungen mit entsprechenden Lernprogrammen für Führungskräfte einhergehen. Wir beobachten jedoch in den letzten Jahren vermehrt, dass diese Führungskräfteprogramme im Rahmen von Veränderungsprojekten nicht (mehr ausreichend) strukturell mit dem Veränderungsprozess gekoppelt werden.

Ein Beispiel: Vor einigen Jahren wurden wir eingeladen, für ein umfassendes Führungskräfteentwicklungsprogramm in einem deutschen Pharmaunternehmen ein Angebot zu legen. Anlass für diese Maßnahme war eine radikale Umstrukturierung samt vermehrter Delegation von Verantwortung in die zweite und dritte Führungsebene. Unser Vorschlag sah vor, neben der Durchführung von Trainings eine Steuerungsgruppe (zusammengesetzt aus Eigentümervertretern, Geschäftsführung vor Ort und Vertretern der Führungsebenen) einzurichten: Diese sollte die neuen Anforderungen an die Führungskräfte formulieren, bei Fragen als Ansprechpartner für die Teilnehmer zur Verfügung stehen und auftauchende Probleme in der Umsetzung durch entsprechende Weichenstellungen unterstützen. Das Unternehmen entschied sich in der Folge für einen anderen Anbieter, der die Trainings – und die Anforderungsprofile – selbst konzipierte und durchführte, eingebunden war lediglich die Personalentwicklung. Das Angebot war deutlich schlanker, auf eine Steuerungsgruppe wurde verzichtet.

In diesem wie in zahlreichen anderen Fällen ergibt sich nach einiger Zeit folgendes Bild: die Trainings werden zu einem Auffangbecken für alle ungelösten Steuerungsprobleme im Zuge der Veränderungen. Die Trainer mutieren zu Seelentröstern. Die Teilnehmer lernen zwar im Seminar, worauf es in der Umsetzung von Veränderungen ankommt, beobachten dann aber mit Schrecken, dass das Top-Management oft ganz anders handelt oder sie mit ihren neuen Führungsvorhaben nicht die notwendige Unterstützung erhalten. Diese Kluft demotiviert die Lernenden und da die Brücke zu den Top-Veränderungsmanagern in den Trainings fehlt, verpufft die Energie, die aus solchen Lernprogrammen entstehen könnte. Was ist hier los?

Trennung von strategischem und operativem Veränderungsmanagement:
Veränderungsmanager oder Organisatoren planen die neuen Organisationseinheiten »am Reißbrett«, sie definieren die neuen Anforderungen und Verantwortungen der Führungskräfte, setzen Ziele und Vorgaben (strategisches Veränderungsmanagement). Die Auseinandersetzung mit den betroffenen Führungskräften findet auf operativer Ebene statt – funktionale Vorgaben werden entwickelt. Die Unterstützung zur Umsetzung besteht im Angebot von Seminaren, die operative Veränderungsmanagement-Fähigkeiten vermitteln sollen.

Delegation des Faktors Mensch an die Personalentwicklung und an externe Trainer⁄Berater
Das Unternehmen engagiert Trainer (interne oder externe), die den Personen die entsprechenden Fähigkeiten (Überbringen schlechter Nachrichten, Herstellen von Veränderungsbereitschaft, Umgang mit Widerständen etc.) vermitteln sollen. In solchen Unternehmen finden wir vielfach eine starke Trennung zwischen Management und Personalentwicklung. Das Management definiert Strategie, Vision und Soll-Zustand – wie die Menschen dem nachkommen, ist Sache der Personalentwicklung und der von ihnen aufgesetzten Schulungen. Wir beobachten in den letzten Jahren eine verstärkte Tendenz, dass Personalentwicklung und Trainer dieses »Fitmachen der Führungskräfte« als Auftragsarbeit ungefragt übernehmen.

Die gesellschaftliche Professionalisierung von Personalentwicklung verführt auch die Personalentwickler dazu, diese einbahnige und einseitige »Auftragsarbeit« anzunehmen: die notwendigen Verknüpfungen zwischen Management und Personalentwicklung bleiben ungelöst: Lernen in Veränderungsprozessen verlangt nach einer intensiven Kooperation und Verantwortungsteilung zwischen Management – Personalentwicklung – Trainern. In dieser Triade müssen alle Fragen rund um die Umsetzung der Lerninhalte ausgehandelt werden.

Die steigende Anzahl an Führungs-Trainings-Anbietern führt dazu, dass unter vermehrter Konkurrenz immer mehr Trainer diese einseitige »Auftragsarbeit« annehmen und mit dementsprechend schlankeren Angeboten auf die Verknüpfung von Lernen und Umsetzung durch entsprechende aktive Unterstützung des Managements verzichten.

Scheiterfaktor 2: Heikles nicht kommunizieren, um Widerstand zu vermeiden

1. Beispiel: Frage der Mitarbeiter: »Wie viele Mitarbeiter sollen abgebaut werden? Welche diesbezüglichen Vorgaben gibt es in diesem Projekt?« Antwort der Führungskraft: »Es gibt keine Vorgaben, dass Mitarbeiter abgebaut werden sollen!« Ein paar Sätze später. »Ich kann Ihnen versichern, dass es keine Vorgaben gibt, wie viele Mitarbeiter abgebaut werden sollen, äh... dass Mitarbeiter abgebaut werden sollen...!« und sie wechselt schnell das Thema.

2. Beispiel: In einem Unternehmen soll die Gebäudeverwaltung und -reinigung outgesourct werden. Es kursieren zahlreiche Gerüchte darüber, weshalb der Leiter der Abteilung selbst in hohem Maße verunsichert ist und in einer Führungsklausur nach der Zukunft seiner Abteilung fragt. »Wir werden in den folgenden Wochen eine systematische Untersuchung machen, ob wir diesen Bereich in- oder outsourcen. Dazu werden wir neutrale und objektive Methoden zur Anwendung bringen. Wir sind in jede Richtung offen.« Zwei Stunden später: »Wenn dann die Gebäudeverwaltung ausgegliedert werden sollte – äh – was wir heute noch gar nicht wissen...«

3. Beispiel: Die Botschaften bahnen sich ihren Weg in vielen Kanälen. Auch wenn’s nicht ausgesprochen wird, die Betroffenen merken es. So meinte ein Teamleiter nach Bekanntgabe des Veränderungsvorhabens: »Der Informationsprozess seitens der Geschäftsführung ist ausreichend verdeckt – äh gedeckt.«

Scheiterfaktor 3: Teamleiter und Führungskräfte der Basis werden funktional isoliert

Teamleiter berichten häufig, dass sie keinen Überblick über die Gesamtheit eines Veränderungsprozesses erhalten und dass sie nicht ausreichend eingebunden und mit anderen vernetzt wären. Das Management kommuniziert erst, wenn das Gesamtpaket geschnürt ist und dann auch nur entlang der engeren neuen Vorgaben. D.h. es wird in erster Linie entlang der Berichtslinien kommuniziert und nicht gleichzeitig und vernetzt im gesamten System. Damit fehlt der Blick fürs Ganze – den diese Führungskräfte dringend bräuchten, um ihren fragenden Mitarbeitern den Sinn der gesamten Veränderung erklären zu können.

Beispiel: Der Produktionsleiter eines Automobilproduzenten wurde mit der Koordination einer neuen Motorenentwicklung quer zu allen funktionalen Bereichen beauftragt. Auf meine Frage, warum man eigentlich gerade jetzt einen neuen Motor brauche, reagierte er verwundert: »Das weiß ich nicht, die Vorgabe kommt aus der Zentrale.« Ähnliche Fragen würden ihm auch die Mitarbeiter seines Bereiches und der anderen Einheiten, die ihn unterstützen sollten, stellen. Mühsam versuchte er in der Folge, den strategischen Hintergrund zu erkunden.

Besonders in Österreich glauben viele Manager, dass die »einfachen« Teamleiter und schon gar nicht die Mitarbeiter strategische und strukturelle Veränderungsfragen verstehen können. Aufgrund dieser Annahme (»das verstehen die eh nicht und das braucht sie auch nicht zu interessieren«) werden nur mehr die funktionalen Schlussfolgerungen und Vorgaben kommuniziert. Denen, die die Veränderung umsetzen sollen, wird damit aber der Sinnzusammenhang kommunikativ entzogen: Motive, Hintergründe, gesellschaftliche Herausforderungen, Reaktionen auf Mitbewerber etc. bleiben als Thema außen vor.

Beispiel: Nur mit Mühe konnte eine Gruppe von Teamleitern in einem Dienstleistungsunternehmen die Bereichsleiter dazu überreden, die neue Führungsstruktur nach der Fusion zu erklären. Man wollte wissen, wer nun wofür zuständig sei. So lautete dann die Antwort: »Hier sehen Sie also die neuen Verantwortlichkeiten, das brauchen Sie sich wirklich nicht zu merken, das werden Sie in Ihrer täglichen Arbeit sicher nicht brauchen. Sie brauchen sich dazu auch nicht allzu viele Fragen stellen, das betrifft Sie eh nicht direkt, für Sie wird sich ja im Wesentlichen nichts ändern.« Drei Monate später wurden die Geschäftsfelder und damit die Teams neu gegliedert.

Scheiterfaktor 4: Delegation des Veränderungsmanagements an Projektmanager

Immer häufiger werden in Unternehmen fachlich profilierte Projektmanager zu Veränderungsmanagern gemacht. Was man ihnen zuschreibt: effizientes Projekt-Management mit hoher Durchsetzungsfähigkeit. Der Irrtum: Veränderungsmanagement ist mehr als Projektmanagement. Diese Projektmanager setzen in aller Schnelligkeit und mit der von ihnen aus fachlichen Projekten gewonnenen Routine Projektstrukturen auf. Diesen fehlt jedoch:
:: die Abbildung der Machtfelder (formeller und informeller Rollenträger)
:: intelligente und flexible Kommunikationsformen zwischen verschiedenen Playern und Bereichen
:: die Unterscheidung in Entscheidungs- und Arbeitsebene, die meist zu rigide ist. In Veränderungsprozessen müssen die Entscheider raus aus ihren Sphären in die konkreten Unwegsamkeiten der Fronten, sie müssen direkt in Kontakt gehen. Steuerungsgruppen sind nicht beweglich und dann zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Kommunikation wird mit Verhandeln verwechselt. Dass man Dinge einfach setzen und trotzdem miteinander erörtern kann, obwohl es keine Mitgestaltungsmöglichkeiten gibt, ist für viele Manager immer noch überraschend: »Das was wir vorhaben ist fix. Es geht darum, wie sie es umsetzen sollen, aber wozu sollen wir sonst noch darüber reden, schade um die Zeit.« Dies meinte ein Geschäftsführer, der nicht verstehen wollte, dass er nach der Information über die neue Strategie noch für ein Gespräch mit der untersten Führungsebene zur Verfügung stehen sollte. Als ich ihn doch überzeugte, dass es Sinn macht, wenn die Führungskräfte miteinander und dann mit ihm besprechen könnten, was ihnen angesichts der neuen Vorgaben durch den Kopf geht und welche Fragen sie haben, war er recht verwundert über das Ergebnis des Gesprächs. »Das hätte ich mir nicht gedacht, dass sie so interessiert und doch relativ wenig widerständig sind.«

Tabuthema Shareholder-Werte und Business-Ethiken
Die beschriebenen Scheiterfaktoren sind eigentlich nicht besonders außergewöhnlich, zudem findet man sie vielfach in der Fachliteratur beschrieben. Wie kann man sich dann erklären, dass dieselben »Fehler« immer wieder auftauchen? Sie wiederholen sich sogar bei Unternehmen und Führungskräften, die es eigentlich wissen müssten, weil sie entsprechende Managementprogramme und Beratungen bereits absolviert haben. Wir unterstellen weder böse Absicht noch mangelndes Wissen. Wir beobachten allerdings bei vielen Change Management-Programmen eine einseitige Orientierung an den Eigentümerinteressen, dem Shareholder-Value und dem Produktivitätssteigerungsparadigma. Diese werden zu nicht hinterfragbaren Tatsachen und entziehen sich jeder Reflexion5.

Diese Orientierung sehen wir allerdings nicht begrenzt auf das Verhältnis zwischen Top-Management und Eigentümern, sondern es handelt sich um ein zunehmend anerkanntes und nicht hinterfragtes Denken in allen Managementstrukturen, auch und besonders in der Gestaltung von Veränderungsprozessen. Wenn aber die Shareholder-Werte dominieren und nicht durch zusätzliche am Umgang mit Menschen und ihrer Würde orientierte Werte  – »wie gehen wir mit Menschen um?« – in einen überspannenden Rahmen gestellt werden, bilden Organisationen eine Kultur, die den einzelnen Menschen zur Schachfigur macht.

Wenn Shareholder-Value und Produktivitätssteigerunsparadigma dominieren...

Viele der zitierten Scheiterfaktoren erscheinen schlüssig, wenn man sie als Shareholder-Dominanz im Veränderungsmanagement betrachtet. Was wird alles ausgeblendet, wenn Veränderungsmanager ihr Handeln – was sie kommunizieren oder eben nicht, worüber sie schulen lassen und worüber nicht, wen sie in die Prozessorganisation einbauen und wen eben nicht – nur nach diesen Prinzipien ausrichten? Wir glauben, dass dann die oben genannten scheinbaren Scheiterfaktoren vor dem Hintergrund solcher Wertedominanz an innerer Logik gewinnen und eben nicht mehr als »Fehler« zu bezeichnen sind.

Was wäre nun, wenn man einen Veränderungsprozess so bauen würde, dass neben der Prozessarchitektur, den Zielen, den Rollen, den Aktionsplänen und Meilensteinen Ethik-Standards definiert würden? Und wenn solche Business Ethik-Standards (Eurich 2006) dem gleichen akribischen Controlling wie die anderen Dimensionen unterzogen werden würden? Mitarbeiter und Führungskräfte könnten dann beobachtete oder vermutete Verstöße gegen die Ethik-Standards direkt und auf kurzem Wege beim Top-Management einmelden. Jedem vermuteten Verstoß wird diskret aber konsequent nachgegangen. Sollte es zu einer Ansammlung von »ethischen Fehlern« in einem bestimmten Prozess kommen, wird entsprechend nachgesteuert, geschult und kommuniziert. Ziel ist es nicht, Sündenböcke zu definieren. Bei Ethik-Fehlern wie auch sonst wenn Mitarbeiter nicht das machen, was man von ihnen bei einer Veränderung will, geht man immer davon aus, dass die Organisation bisher noch zu wenig kommuniziert, geschult oder zuwenig in die erwünschte Richtung gesteuert hat. Erst bei mehrfachen Ethik-Fehlern und nach eingehenden Unterstützungsangeboten werden Sanktionen gesetzt. Diese sichern den Veränderungsprozess dahingehend ab, dass Worte und Taten übereinstimmen. Eine Business Ethik-Vereinbarung für Veränderungsprozesse ist als Prozess aufzusetzen und als Steuerungsinstrument wirksam und entlang von Fragen zur Steuerung, Kommunikation und Lernen entwickeln zu lassen.

Business-Ethik-Standards lassen sich am besten entlang von Fragen rund um Steuerung, Kommunikation und Lernen entwickeln.

Entscheidend wird sein, wie sich solche oder ähnliche Ethik-Standards in der Hardware von Veränderungsprozessen niederschlagen. Es ist wie bei den Leitbildern, solange sie am Papier stehen und nicht mit den Taten übereinstimmen, sind sie entbehrlich. Wichtig ist, was wir tun oder unterlassen, wenn wir unseren ethischen Vereinbarungen folgen. Damit könnte eine Kultur des Veränderungsmanagements entwickelt werden, die ihre »Guiding Principles«6 offen legt und als Steuerungsgrößen definiert. Diese Idee ist vielleicht ganz nett – doch illusionär werden Sie sagen. Stimmt. Die Frage ist nur: was können wir schon heute tun?

Werte-Selbstvereinbarungen für Veränderungsmanager
Wir erleben eine wachsende Gruppe von Veränderungsmanagern, die ein immer deutlicheres Unbehagen mit der Art und Weise verspüren, wie sie Veränderungsprozesse steuern (müssen). Methoden und Konzepte bringen keine Entlastung, weil zwar methodisch und konzeptionell vorbildhafte Veränderungsarchitekturen und –prozesspläne eingeführt wurden, doch die im Hintergrund befindlichen Mechanismen die oben beschriebenen Scheiterfaktoren mit sich bringen. Diese Gleichzeitigkeit von formal ausreichender Kommunikation und beobachtbarer mangelnder Kommunikation ist für viele Manager verwirrend.

Die Optimierung von Methoden erreicht hier ihre Grenzen. Eine Möglichkeit wäre folgende: Veränderungsmanager könnten – auch wenn’s keine organisationsweite Werte-Vereinbarung für ihren Veränderungsprojekt gibt – für sich bestimmte professionelle Werte-Standards definieren. Diese geben Orientierung. Diese beschleunigen Handlungsfähigkeit in heiklen Phasen. Diese wirken in die Organisation hinein, nach unten und nach oben. Werte sind nämlich durch die Handlungen beobachtbar.

Blick über den Tellerrand
Mehrere gesellschaftliche und professionelle Felder geben Hinweise auf einen neuen Umgang mit diesen Fragen auch für Beratung und Training in Veränderungsprozessen:

:: Professionen, die mit der Verletzlichkeit von Menschen zu tun haben:
Wenden wir den Blick jenen Professionen zu, die von ihrer Kernaufgabe her mit Menschen in Abhängigkeiten und den sich daraus ergebenden strukturellen Verletzlichkeiten zu tun haben (wie Pflege, medizinische Debatten um den Umgang mit Sterben und Lebensverlängerung, Behindertenarbeit, Integrationsarbeit etc.), können wir Folgendes sehen: die Besten ihres Faches entwickeln ihre Dienstleistung, Prozesse und Konzepte auch aus der Zugrundelegung von Werten, Menschenbildern und ethischen Standards.

:: Organisationen und gesellschaftliche Bewegungen, die explizite »humanistische« Werthaltungen in Produktionsbedingungen umsetzen helfen:
Ausgehend von einer internationalen Globalisierungsdiskussion entwickeln immer mehr Branchen und international tätige Unternehmen aus der Textilproduktion, Lebensmittelproduktion und dem Handel ethische Vereinbarungen für Arbeitsbedingungen vor allem für Produktionsstandorte in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Andere Beispiele sind Organisationen wie Fair Trade, die Prozesse wie den Handel mit Lebensmitteln spezifischen Werten unterlegen.

:: International diskutierte Forschungsergebnisse aus der Soziologie:
Ein drittes Feld ist die soziologische Forschung, die uns klare Hinweise auf die Notwendigkeit der Integration von Wertefragen in der Wirtschafts- und Organisationslogik gibt. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat dargelegt, wie wir bei aller gegebener gesellschaftlichen Ungleichheit zumindest zu einem Umgang miteinander kommen, der von wechselweiser Anerkennung geprägt ist.7 Auch der israelische Philosophieprofessor Avishai Margalit Fest8 legt präzise dar, wie die Mechanismen institutioneller Demütigung schleichend und leise Einzug in viele Organisationen nehmen und welche Wertehaltungen notwendig wären, damit Organisationen ihre Mitglieder und Kunden mit Achtung behandeln können.

Auch Berater sind gefordert, ethische Standards für ihre Interventionen zu definieren. Je mehr Berater zu »Sparringpartnern« von Kunden werden und ein »gemeinsames Unternehmen auf Zeit« bilden, desto mehr werden sie gefordert sein, über ihre Werte zu reflektieren und die Werthaltungen der Kunden einer Reflexion zu unterziehen. Gleichzeitig könnten Berater Veränderungsprozesse so bauen, dass die Entwicklung von Business-Ethik-Überlegungen Eingang in die Prozesse und Ergebnisse findet.  

 

1 Capgemini: Veränderungen erfolgreich gestalten. Change Management 2005
2 Doppler, Klaus: Der Change Manager, 2003
3 vgl. Untermarzoner, Dagmar: Vom Umgang mit dem Scheitern in Veränderungsprozessen, in: Hernsteiner, 1998
4 vgl. Eurich, Claus: Mehrwert oder mehr Werte? Zu einem integralen Verständnis von Business Ethics, in: Hernsteiner 1⁄2006
5 Wimmer, Rudolf: Entwicklungstrends in Wirtschaft und Gesellschaft – mögliche Auswirkungen auf den Beratermarkt, in: Wimmer, Rudolf: Organisation und Beratung. Systemtheoretische Perspektiven für die Praxis, 2004
6 Schein, Edgar: Leadership and Culture, in: Hernsteiner 1⁄2006
7 Sennett, Richard: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, 2004
8 Avishai Margalit Fest: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, 2002

 

URL: http://www.perspektive-blau.de/artikel/0609b/0609b.htm