Wenn Organisationen desintegrieren.
Weiche Themen mit knallharten Auswirkungen
Warum werden Systeme oft immer träger, verbrauchen zunehmend Energie, weil Prozesse nicht sinnvoll ineinander greifen, weil Fehlfunktionen korrigiert werden müssen, weil immer mehr Krisen- und Konfliktbewältigung von den wesentlichen Aufgaben und zukunftsgerichteter Entwicklung abhalten? Komplexe Systeme brauchen Regeln und nur wenn diese Teil einer gelebten Organisationskultur sind, werden sie Wirkung zeigen.

Bernd Schmid

        


 
enn Fehlfunktionen unübersehbar und nicht durch günstige Entwicklungen kompensiert oder abgefedert werden, sind Erneuerungen angesagt. Manager wie Berater stehen dann unter Handlungsdruck und suchen den Dreh, die entscheidenden Erklärungen und Lösungsideen, die ein Herumreißen des Ruders und einen Neuanfang ermöglichen sollen. Vielleicht gibt es zu drastischen Maßnahmen oft gar keine Alternative mehr. Doch verdecken solche Notlösungen oft die eigentlichen Ursachen und machen daher auch nicht sensibel dafür, wie künftig Systeme laufend so zu pflegen sind, dass sie nicht wieder in ähnliche Bedrängnisse geraten.

Schon aus der Kindererziehung weiß man, dass die besten pädagogischen Krisen-Interventionen die Vermeidung der Krise durch umsichtiges Gestalten des Alltags und waches Reagieren auf entstehende Probleme sind. In zugespitzten Situationen gelingt es selten, Verhalten zu zeigen, das als Maßstab für den täglichen Umgang miteinander gelten kann.

Große Stunden und große Bühnen können Organisationskultur gelegentlich fördern, doch ist sie im Wesentlichen eine Angelegenheit des Alltags. Die tägliche Pflege von Organisationskultur von Anfang an und im Konkreten wird jedoch von vielen Topmanagern als weniger sexy angesehen, ist nicht für Heldentaten geeignet und rechtfertigt kaum überdimensionale Privilegien. Am sinnvollen Gestalten von funktionierender Alltagskultur wirken eben viele mit und deren Beiträge sind nicht minder wichtig, wenn auch weniger spektakulär.

Warum desintegrieren Organisationen?
Hier soll eine Lanze für die Alltäglichkeit von guter Organisationskulturpflege gebrochen werden. Dafür soll eine ebenfalls unspektakuläre Betrachtung angeboten werden: Warum desintegrieren komplexere Organisationen? Warum desintegrieren Systeme, oft selbst dann wenn ihre Teilsysteme vernünftig scheinen und jeder sein Bestes tut?

Zunächst ein Bild: Als ein komplexes, wenn auch technisches System kann man sich eine große Druckmaschine vor Augen führen. Viele mechanische und elektronische Teilsysteme müssen präzise ineinander greifen, wenn das Druckergebnis hochwertig sein soll. Wenn die durch die Maschine erreichbare Qualität verbessert werden muss, ist dies selten durch Verbesserungen einer Komponente allein zu machen. Die einzelnen Teilsysteme zeigen vielleicht geringfügige Abweichungen oder solche, die man durch Veränderungen an anderer Stelle kompensieren kann. Doch multiplizieren sich viele kleinere Abweichungen zu einem insgesamt unbefriedigenden Ergebnis. Verbesserung kann dann eben auch nicht durch die eine einzelne Maßnahme erreicht werden, sondern durch viele kleine Korrekturen, die sorgfältig aufeinander abgestimmt werden müssen.

Je komplexer und arbeitsteiliger soziale Systeme werden, desto größer wird der Aufwand, ihr Zusammenspiel integriert bzw. wenigstens komplementär zu halten. Hierzu müssen die Wirklichkeitsverständnisse und Selbststeuerungen der beteiligten Teilsysteme zueinander passend gemacht und gehalten werden. Doch neigen Wirklichkeitsverständnisse dazu, im Laufe der Zeit zu »driften« und Eigendynamiken der Teilsysteme entwickeln ihr eigenes Gewicht zu Ungunsten des Aufbaus und der Pflege einer Gemeinschaftswirklichkeit, der Anschlussfähigkeit der Teilperspektiven daran und der koordinierten Selbststeuerungen.1

Gesamtverantwortung nicht aus den Augen verlieren
Aus den Unterschiedlichkeiten entstehen zunächst eher »Haarrisse« im Gebäude der Gemeinschaftswirklichkeit, für die es Reparaturmechanismen geben muss, wenn sie sich nicht zu ernsthaften Bauschäden auswachsen sollen. Doch finden diese Risse oft nicht genügend Beachtung, weil die Teilsysteme sie nicht im Fokus ihrer Aufmerksamkeit haben. Oder sie können mit akzeptabel erscheinendem Aufwand damit leben, ohne die Risse wenigstens unter Beobachtung zu stellen. Dazu kommt die Neigung jedes Teilorganismus, sich selbst zu optimieren und in Szene zu setzen und darüber die Gesamtverantwortung aus den Augen zu verlieren.

Solche Effekte multiplizieren sich schnell auch in Bereichen, die für die Kernfunktion und die Kernidentität einer Organisation entscheidend sind. Bei günstigen »Großwetterlagen« entsteht keine frühe Notwendigkeit zur Korrektur durch kontinuierliche Verbesserungsprozesse (KVP) und⁄oder Konsequenzen können symbiotisch verschoben werden, d.h. Verantwortung oder Lasten werden auf nicht Verantwortliche oder nicht Einflussmächtige verschoben. Dann häufen sich Fehlzusammenspiele nicht nur, die Einsicht in die Zusammenhänge wird auch immer schwerer. Es entstehen organisationale Lernstörungen. Statt Kulturkorrekturen entstehen Gewohnheiten sich mit Fehlfunktionen zu optimieren bzw. Ressourcen für das Leben mit ihnen zu verbrauchen bis sie allen auch normal erscheinen.

In komfortablen Zeiten wirken solche Organisationen dennoch wirtschaftlich gesund, wenn auch schwerfällig. Doch erlauben neu herausfordernde Umweltbedingungen das Weitermachen so nicht mehr, dann ist es für organische Erneuerungen oft zu spät oder die Systemkompetenz dazu ist vermindert. Je höher die dann zu Tage tretenden Probleme aufgelaufen sind, desto mehr überlässt man nun Sanierern das Feld. Diese neigen nun zu spektakulären Erklärungen und Maßnahmen, die zu ihrem Geschäft gehören. Gordische Knoten sollen mutig und am besten öffentlichkeitswirksam durchschlagen werden. Genaues Studieren der Verknotungen und sorgfältiges Aufknoten ist nicht Sache der dabei meist aktiven männlichen Spezies.

Ähnlich diffizil wäre es jetzt, die Situation rückblickend als Folge vieler kleiner, sich multiplizierender Fehlsteuerungen zu begreifen und notwendige Lernprozesse ab- und einzuleiten. Da schneidet man eben die verknoteten Haare kräftig ab und mutet ihren Trägern die Verstümmelungen zu. Dies trifft meist diejenigen besonders hart, die am wenigsten die Fehlentwicklungen hätten verhindern können und müssen. Denn die Verantwortlichen sind längst zu neuen Heldentaten unterwegs.

Krise als Anstoß für Lernprozesse
Was unbeachtet bleibt: Aufarbeitungs- und Lernprozesse kommen sowohl bei den »sanierten« Organisationen wie auch den dann woanders Ton angebenden Managern zu kurz und führen dazu, dass dieselben Haltungen und Vorgehensweisen wiederholt werden. Wie eine Infektion können sie weiterwirken und sich woanders verbreiten. Eine Quarantäne für Kulturinfektionsträger ist noch nicht erfunden. Noch nicht einmal ein System, bei dem persönliches Einkommen und Alterssicherung von der Gesundheitsentwicklung der Organisation und der Wohlfahrt aller Stakeholder, für die man Verantwortung trug, abhängt.2 Stattdessen rechtfertigen sich neuerdings Bezieher überdimensionaler Einkommen damit, dass diese größtenteils erfolgsabhängig wären. Erfolg für wen? In welcher Zeitperspektive? Dies ist oft ganz anders bei Eigentümer-geführten Unternehmen, weil dort die Zusammenhänge noch spürbar sind und die eigene Familie und das Lebensumfeld direkt betreffen.

Politisch angelegte Sanierungsideen lösen die Probleme oft eher formal oder quantitativ anstatt substantiell und qualitativ. Rügen oder öffentliche Distanzierung von ausgemachten Schuldigen personalisieren die Probleme. Mit »Ausmisten« wie Reduktion von Personal oder undifferenziertem Erfolgsdruck ( z.B. Ergebnis-Zahlen-Vorgaben) auf untergeordnete Instanzen wird vorwiegend Angst erzeugt. Versucht man wieder mal mit Druck aus Kohle Diamanten zu machen? Spielt Ausschuss keine Rolle? Ist die epidemische Zunahme von Depressionen ein privates Problem, für dessen Lösung der Gesundheitssektor Lösungen finden muss? Sollen Probleme bei unentbehrlichen Leistungsträgern durch Coaching abgefangen werden?3

Unbestritten ist, dass zu behäbig und traditionell gewordene Systeme ohne auch drastische Erfahrungen schwer zum Aufbruch zu bewegen sind, klug inszenierte Aufrütteleffekte verschlafene Systeme durchaus wecken. Ob sie allein zum Lernen führen, einem konstruktiven Auswerten von Fehlern und Versäumnissen oder zur Neubelebung von Vitalität und Kreativität ist fraglich. Entscheidend ist, ob die Krise zum Anlass genommen wird, Verantwortungskultur sorgfältig und alltäglich nachhaltig weiterzuentwickeln.

Wir unterscheiden zwischen »Verantwortlichkeit für« (die spezifischen Aufgaben jeder Funktion) und »Verantwortlichkeit in Bezug auf« (die Pflege des Ganzen). Wenn nicht genügend für Verantwortungskultur, die beides integriert, getan wird und bei Umsichtslosigkeit (Rücksicht trifft es nicht genug) kein Korrektivsystem aktiv wird, ja Partialoptimierung und Egoismen sogar belohnt werden, dann entstehen immer mehr kleine Lücken im Verantwortungssystem oder es kommt zu verschleißendem Fehlineinandergreifen von Zuständigkeiten und Prozessen.

Wie kann der Desintegration und dem Auseinanderdriften der Wirklichkeiten und der Steuerungen entgegengewirkt werden?

In »familiären« Organisationen kann viel durch persönlichen Kontakt und durch intuitive Abstimmung zwischen Einzelnen geregelt werden. In größeren Organisationen muss mehr formal geregelt werden. Doch jeder weiß, dass formale Regelungen nicht alles erfassen. Wird dies versucht, ersticken die Systeme in Bürokratie. Nur solche Regelungen, die Bestandteil gelebter Organisationskultur werden, haben konstruktive Wirkung. Andere erzeugen Illusionen und Doppelbödigkeit und werden nicht selten lediglich für Rechtfertigung und Schuldzuweisung gebraucht.

Organisationskultur als gemeinsame Sprache
Vieles, ja meist das Wesentliche wird durch gelebte Organisationskultur geregelt. Komplexe Systeme brauchen ein gewisses Regelwerk als Leitplanken, doch gesteuert werden können sie nur durch dezentral gelebte Abstimmung vor Ort. Dazu muss jeder irgendwie verstanden haben, worauf es im Prinzip ankommt, damit er sich eigenständig entsprechend steuern kann. Integration gelingt nur über geteilte Organisationskultur. Dabei ist das »Wie« oft wichtiger als das »Was«.

Gelebte und geteilte Organisationskultur ist wie gemeinsame Sprache. Jeder lernt ihre Grammatik durch lebendigen Umgang damit in konkreten Situationen. Auch Sprache dient der Gestaltung von Wirklichkeit, neben den identitätsbildenden Funktionen. Man kann grammatikalisch richtig sprechen und zeigt damit die implizite Kenntnis der Grammatikregeln ohne diese benennen zu können. Man erlernt sie im Wesentlichen ohne Grammatikbücher zu studieren. Diese haben nur spezifischen Nutzen für Wenige. Die gemeinsam gesprochene Sprache müssen aber alle verstehen und sprechen. So ist es dann auch mit der Organisationskultur.

So wie eine Fremdsprache am besten durch Sprechen und beständige Korrekturen und Anreicherungen in Live-Situationen gelernt wird, wird auch Organisationskultur gelernt. Dies kann kaum in gesonderte Schulungen weg delegiert werden. Lehrveranstaltungen haben jedoch eine nützliche Sonderfunktion, wenn sie keine eigene Welt aufbauen, sondern als Brücke zum Lernen in der Praxis dienen. Wichtiger ist nämlich die gemeinsame Lernhaltung und gegenseitige Hilfe in der Sprachpraxis. Wenn man es auch hier bequemer findet, Fehler unkorrigiert zu lassen, weil man ja auch irgendwie so zurecht kommt, bleibt die Sprachkompetenz dürftig. Bei einfachen Tätigkeiten mag dies unproblematisch sein. Doch bei komplexen Themen, bei denen es auf die Nuancen ankommt, können entscheidende Missverständnisse daraus erwachsen. Hier ist Konfrontationskultur angesagt, wobei damit nicht Streitereien, sondern häufige Abgleiche der Verständnisse von Wirklichkeit und Verantwortungen gemeint sind. Ohne Mut und ein positives Verständnis von Konfrontation bleibt das Gefühl, eine Wirklichkeit und Kultur zu teilen, oft aus.

Eigentlich ist Desintegrationen verständlich und eher der Normalfall. Kultur ist wie Leben überhaupt leicht vergänglich. Es muss beständig an ihrer Erhaltung gearbeitet werden. Dies tun Menschen im Unterschied zu Maschinen von sich aus täglich. Ist es nicht erstaunlich, wie gut vieles gelingt, obwohl Strukturen und Prozesse unzulänglich sind und an der Spitze oft wenig auf Organisationskultur geachtet wird? Hier profitieren alle von der Kompetenz und Verantwortlichkeit vieler Menschen und von der gesellschaftlichen Lebenskultur, die ihnen gemeinschaftliches Agieren ermöglicht. Wenn auch diese Lebenskultur vernachlässigt wird, haben wir herbe Zeiten vor uns. Denn komplexe Organisationen haben immer mehr Diversität zu bewältigen und Kulturbegegnung wird ein oft entscheidender Teil der Kommunikationsaufgabe sein.

Diese Ausführungen sollten Anreiz sein, zur Erhaltung von Leistungsfähigkeit und Wohlergehen von Organisationen und der Menschen darin, in bewusste Kulturentwicklung zu investieren - eines der so genannten »weichen« Themen mit knallharten Auswirkungen.  

 

1 Schmid, Bernd; Messmer, Arnold: Systemische Personal-, Organisations- und Kulturentwicklung, 2005
2 Ebenda
3 Ebenda
 

URL: http://www.perspektive-blau.de/artikel/0802a/0802a.htm