Lifespender's Value – oder: Hat die Personalarbeit den Menschen aus den Augen verloren?
Personalarbeit ist in vielen Unternehmen nicht mehr als bloße Personalverwaltung. Der Fokus der Unternehmenslenker richtet sich auf Märkte, Bilanzkennzahlen, Tarifabschlüsse und dergleichen harte Fakten. Vom Umgang mit der – angeblich so wichtigen – Ressource Mensch ist wenig zu vernehmen. Ist die Würdigung des Menschen in Organisationen humanistische Gesellschaftsromantik, die man sich nicht leisten kann, oder steckt doch ökonomischer Sinn dahinter?

Bernd Schmid

        


 
at die Personalarbeit den Menschen aus den Augen verloren? Man könnte auch umgekehrt fragen: Hat die Personalarbeit den Menschen für die Herausforderungen von morgen überhaupt schon angemessen ins Auge gefasst? Also mal wieder die Gretchenfrage der Personalarbeit: »Wie hältst Du es mit dem Menschen?« Hat man nicht gerade heute Wichtigeres auf der Prioritätenliste? Und welcher Mensch ist überhaupt gemeint? Der, den man zwecks Kostenminderung los sein möchte, oder der, der – mit erhöhten Anforderungen konfrontiert – dem Unternehmen erhalten bleiben soll?

In diesem Text wird die Ansicht vertreten, dass eine Neufokussierung auf ein strategie- und ressourcenbewusstes Personalmanagement ansteht. Es wird gezeigt, dass ein kompetenterer Umgang mit Menschen sowohl in Führungsbeziehungen als auch in der Personalentwicklung überfällig ist und wichtige Entwicklungschancen bietet. Die Aussage »Personalressourcen-Management und kompetente Menschenbetreuung gehören zusammen« kann als Kernthese des vorliegenden Texts gelten. Fraglich ist, ob die zuständigen Fachleute und Führungskräfte auf die neuen Anforderungen vorbereitet und ernsthaft motiviert sind, Strategieorientierung und Menschenorientierung wertschöpfend zu kombinieren.

Die Ausführungen konzentrieren sich in diesem Zusammenhang im Wesentlichen auf die Menschen, die als innovative Leistungsträger in Unternehmen deren Fortentwicklung sichern sollen. Für ihre Betreuung werden zunehmend neue Maßstäbe gelten. Jedoch dürfen aus gesellschaftlicher Verantwortung die anderen Menschen in dieser Diskussion nicht vergessen werden.1

Aufbruch zu neuen Horizonten?
Wenn Personalressort-Verantwortliche über Unternehmensentwicklungen referieren, gewinnt man oft den Eindruck, dass sie über Produkte, Märkte, Controlling-Kennzahlen, Tarifabschlüsse und ähnliches zu berichten wissen und bemüht sind, sich durch kompetente Aussagen auf diesen Feldern als für das Unternehmen wichtig zu empfehlen. Weniger wichtig erscheinen Aussagen über den Umgang mit Menschen, zum Lernen in Organisationen oder zu Weiterentwicklungen z.B. in Sachen Führungs- oder Verantwortungskultur. Soweit aus der Personalperspektive gesprochen wird, hört man die Sprachen der Ökonomie, der Technik, des Marketing usw., selten jedoch eine Sprache, die den Umgang mit und die Orientierung auf Menschen in Organisationen repräsentiert. Vielerorts scheint Personalarbeit also noch kaum aus dem Schatten reiner Personalverwaltung und der ergänzenden Verteilung von Incentives herausgetreten.

Sicher wäre dies ganz anders, wenn die Fehlbewirtschaftung der Ressource Mensch ähnlich wie beim Geld ein unmittelbarer Konkursgrund wäre. Ein »Führungs-Konkurs« z.B. würde dann eintreten, wenn entweder die langfristige Pflege der Führungskultur nicht den persönlichen Gewinn an Lebensqualität durch Arbeit erbringen würde (Lifespender Value), oder wenn das Führungssystem mangels liquider Energie, Kompetenz oder Motivation, es zu betreiben, zusammenbräche. Je mehr jedoch Unternehmen auf die Loyalität weniger Hochleistungsträger angewiesen sind, und je vielschichtiger sich Ansprüche auf Lebensqualität entwickeln, desto eher hängt Unternehmenserfolg auch von Unternehmenskultur bezogen auf den ganzen Menschen ab.

Die Frage wird erneut bedeutsam, ob die Personalarbeit diese Menschen sinnvoll im Auge hat. Oft genug wird dies noch zynisch verneint durch Bonmots (oder besser »Mal-mots«) wie: Der Mensch steht im Zentrum – und dort ist er im Weg, oder: Der Mensch ist Mittel. Punkt.

Dem steht klassisch entgegen ein ethischer Imperativ von Immanuel Kant: Der Mensch darf niemals nur Mittel, sondern muss immer auch Zweck sein. Menschen zu würdigen, während sie gleichzeitig Gegenstand einer Bewirtschaftung sind, ist sicherlich keine leichte Herausforderung. Schließlich können nur bestimmte Aspekte menschlicher Ressourcen Gegenstand des Bewirtschaftens sein. Und doch ist es wichtig, den ganzen Menschen für Betrachtungen mit Tiefenschärfe einzubeziehen. Dies halten viele noch für humanistische Gesellschaftsromantik, die man sich nicht leisten kann oder will. Natürlich können Unternehmen nicht ausufernd für gesellschaftliche Fragen der Lebenskultur verantwortlich sein. Dass jedoch andererseits der Versuch, Probleme vorrangig durch Personalabbau und Mehrbelastung der verbleibenden Mitarbeiter lösen zu wollen, eine Milchmädchenrechnung ist, deren Kosten und Belastungen auf Wechsel finanziert sind, kann denkenden Mitmenschen kaum verborgen bleiben.

Ethisch und ökonomisch sinnvolle Mittelwege
An einem sinnvollen Mittelweg muss gearbeitet werden. Voraussetzung dafür ist, dass die Polarisierung zwischen Wirtschaftsverantwortlichen und Menschenorientierten überwunden wird. Oft kann man hier ein schizophrenes Nebeneinander beobachten. Einerseits werden die Menschen technischen und wirtschaftlichen Belangen unterworfen und ihre Würde und Zugehörigkeit diesen oft kurzsichtigen »Notwendigkeiten« geopfert.2 Andererseits gibt es Corporate-Identity Bemühungen, politische Erklärungen und Seminarprogramme, in denen Betroffenen Gelegenheit geboten wird, sich als Mensch angesprochen zu fühlen. Ob beide Welten in den Steuerungsprioritäten der Management- und Führungsverantwortlichen des Unternehmens zusammenkommen, bleibt fraglich.

Lebenstüchtigkeit eines sozialen Organismus hat jedoch viel mit Integration (Gefügtheit) elementarer Lebensperspektiven zu tun. Nur dadurch entsteht Sinn und Bezogenheit nach innen und außen. Wenn das fruchtlose Nebeneinander von Effizienz und Menschenorientierung erkannt wird, bietet sich eine neue Chance, beide Perspektiven wieder in einen engeren Zusammenhang zu stellen.

Hierzu ist einiges zu klären: Wie bedeutsam ist wirklich die Würdigung menschlicher Belange für die Vitalität und die Kultur eines Unternehmens? Beziehungsweise: Wie schlank, effizient, intelligent und strategieorientiert müssen Bildungs- und Personalentwicklungsprogramme sein, damit sie längerfristig zu den ökonomischen Bedingungen einer humanen Gesellschaft beitragen? Wie lassen sich gesteigerte Anforderungen mit einem menschlichen Maß verbinden? Wie kann man in der Personal- und Organisationsentwicklung die Integration von Ökonomie, Effizienz und Humanismus vorleben?

Vertreter des Humanismus müssen sich bewusst den Fragen der Ressourcenökonomie und der Strategieorientierung stellen, wenn sie gesellschaftlich bedeutsam sein wollen. Sie müssen intelligente und humane Produkte zur Bildung, Personal- und Organisationsentwicklung erarbeiten, die strategie- und kulturrelevant bei schlanker Eigenorganisation positioniert werden.

Personalarbeit heißt in erster Linie Umgang mit Menschen. Und wer sind die Menschen, um die es geht? Es sind die Menschen, die ihre Lebensvollzüge und -entwicklungen in drei Welten unter einen Hut bringen müssen. Hierbei geht es um Lebensentwürfe und integrierte Sinnstiftung in den jeweiligen Rollen in Organisationen und um erlebte Zugehörigkeit (Organisationswelt). Es geht um professionelle Entwicklung und eine eigene Identität auf dem Arbeitsmarkt (Professionswelt). Und es geht um die Vielfalt privater und gesellschaftlicher Rollen und Beziehungen (Privatwelt).

Ob man aus der Sicht der Organisationen die Familien der Mitarbeiter zur Umwelt oder Innenwelt der Betrachtung zählt, ist zweitrangig. Entscheidend ist das Bewusstsein, dass man ihre Lebensqualität durch die Arbeitskultur des Unternehmens mit berührt. Eine Entlastung von Verantwortung durch Berufung auf die Entscheidungsfreiheit der Beteiligten kann nur bedingt gelten. Natürlich unterschreibt jeder Arbeitnehmer seinen Arbeitsvertrag freiwillig. Dies entlastet das Unternehmen dennoch nicht von der Verantwortung, Arbeit und Karrierekultur so zu gestalten, dass die Lebenskultur betroffener Familien mitbedacht wird. Die Bereitschaft junger Menschen, unter Selbst- und Familienausbeutung schnelle Aufstiegsmöglichkeiten zu realisieren, entlastet nicht von der Verantwortung, über Spätfolgen für die Berufskarriere nachzudenken und für die Sinnerfüllung der Mitarbeiter sowie für die Lebenszufriedenheit der Familien positive Voraussetzungen zu schaffen. Dass solche Anliegen klassisch eher bei Arbeitnehmervertretern angesiedelt wurden, kann nur Kurzsichtigen als Entlastung von Verantwortung willkommen sein.

Missbrauch schafft Missbrauch
Wird der sorgsame Umgang mit dem ganzen Menschen vernachlässigt, ist der Schaden an gesellschaftlicher und unternehmerischer Lebenskultur vielfältig. Denn: Vernachlässigte oder gar missbrauchte Menschen verlieren selbst den Blick für das menschliche Maß. Ihnen geht nicht nur eine Behandlung ab, die ihrer würdig wäre, sondern sie verlieren auch das Gefühl dafür, was richtige Behandlung ist und werden selbst zu stillschweigenden Duldern und Mittätern einer entsprechenden Kultur. Sie vernachlässigen und missbrauchen ihrerseits andere Menschen.

Ähnliches ist in den generationsübergreifenden Gewalt- und Missbrauchsbeziehungen zu beobachten. Kindesmissbrauch und Gewalt bei Tätern basiert häufig auf entsprechenden Erfahrungen als Opfer. Es wird eine Vernachlässigungs- und Missbrauchskultur gelernt, die auch von den Opfern als spätere Täter weitergegeben wird. Im ersten Schritt müssen sich die Menschen als Opfer erkennen und verstehen, welchen Preis sie bezahlen. Der zweite und entscheidende Schritt besteht darin, sich auch als Täter sehen zu können und die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass anderen Besseres widerfährt.

Unternehmenskultur ist für jedes Unternehmensmitglied wichtig. Jeder ist betroffen und wirkt mit. Menschen sind von unternehmerischer Wirklichkeit maßgeblich betroffen und gestalten sie maßgeblich mit. Es wäre eine Bankrotterklärung, wenn sich alle im Unternehmen als lediglich betroffen sehen würden. Zwar mag sich dies im Einzelfall so darstellen, doch muss man grundsätzlich davon ausgehen, dass auch in Unternehmen der Mensch des Menschen Schicksal bestimmt. Statt in entfremdeter Weise von Sachzwängen zu sprechen, muss anerkannt werden, dass bei allen situativen Gegebenheiten Menschen durch ihre Entscheidungen (wie durch ihre Unterlassungen) Entwicklungen beeinflussen und zu verantworten haben.

Anzeichen für Schieflagen in persönlichen Entwicklungen und in der Unternehmenskultur werden häufig registriert und beklagt. Einige seien beispielhaft genannt:

:: Macht- und Wichtigkeitsanhäufung als vorrangige Motivation mit Eigendynamik im Unternehmen. »Die Größe des Ackers ersetzt dessen Bestellung!« Auf diese Weise werden Äcker in Beschlag genommen, die man nicht bewirtschaften will und kann, aber man verhindert, dass sie von anderen bewirtschaftet werden.
:: Aufblähung und Orientierungslosigkeit der Apparate. Hier kreißen die Berge in Scheinschwangerschaften oder gebären nur Mäuslein. Hier muss sicher erheblich verschlankt werden. Aufblähung und Orientierungslosigkeit spielen zusammen.
:: Springen von Job zu Job, von Projekt zu Projekt. Mancher Acker verwaist gerade dann, wenn er kontinuierliche Pflege bräuchte, oder er wird zur Unzeit quergepflügt. Nicht nur die aktuelle Ernte, sondern auch das Lernen gehen verloren.
:: Rückzug in Selbstoptimierung, in Nischen, in berufliche Hobbygärten oder Freizeitwelten. Es werden pseudowichtige oder stressarme Räume im Unternehmensgefüge geschaffen und nach dem Gesichtspunkt ihrer Erhaltung wird Einfluss ausgeübt.
:: Chronische Hektik: Die Menschen wirken unstet, gehetzt und unter Druck. Sie spüren das Versäumnis an Sinnhaftem und beeilen sich noch mehr, um sich in der Eile noch mehr zu verlieren.
:: Menschen haben einen feinen Sinn für das Gleichgewicht von Geben und Nehmen. Nimmt jemand mehr als er gibt, führt dies häufig nicht zu einer sinnvollen Mehrleistung oder zum Verzicht. Stattdessen wird die Situation seelisch umgekehrt. Das berechtigt schlechte Gewissen wird in einem inneren Umdeutungsvorgang in noch mehr Ansprüche verdreht. Manche nicht zu befriedigende Gier stellt die Rückseite des inneren Wissens dar, dass man nicht genügend hineingibt in den Topf, aus dem man herausnimmt. Vor einem Anspruch an sich selbst werden immer neue Ansprüche an die Umwelt gestellt.
:: Raubbau an den eigenen Kräften und Sinnchancen sowie an den Ressourcen der Familien. Burn-out-Syndrome oder zunehmende Sinnentleerung, z.B. weil sinnträchtige Stationen im Eildurchlauf verbraucht wurden, werden ebenso als individuelle Probleme betrachtet wie die Aushöhlung des Privatlebens und die Zerrüttung familiärer Beziehungen.

Steuerungsprobleme belasten die Unternehmenskultur
Die Dynamik und Komplexität der unternehmerischen Prozesse hat erheblich zugenommen. Viele Unternehmen sind noch weit davon entfernt, Steuerungen zu entwickeln, die diesen neuen Anforderungen entsprechen. Die hieraus erwachsenden vielfältigen Probleme werden – so lange es geht – durch Belastungen der so genannten weichen Faktoren, also durch Zusatzbelastung von Menschen, abgefedert. Man versucht, den Stress zu ertragen in der meist illusionären Hoffnung, dass es schon irgendwann besser werden wird. Wirkliche Besserung ist jedoch nicht ohne eine dramatische Weiterentwicklung von Menschen und Systemen möglich. In einer Rückverschränkung müssen gleichzeitig wieder Menschen qualifiziert werden, um Systeme sinnvoller zu gestalten bzw. müssen Systeme besser gestaltet werden, um die Qualifizierung von Personen zu begünstigen.

Benötigt werden Systemlösungen, in denen systemintelligente Personenqualifizierung und personensensible Systemqualifizierung zusammenspielen. Doch gerade bei Organisations- und Personalentwicklungs-Aufträgen glaubt man, mit bruchstückhaften Maßnahmen viel zu früh viel zu umfassende Wirkungen erwarten zu können, und versucht sich mit Aktionen, die im technologischen Bereich sofort als Augenwischerei oder wenig sinnvolle Halbherzigkeit erkannt würden. Daher müssen sich auch die Qualifikationssysteme und ihre Auftraggeber selbst erheblich qualifizieren. Auch diejenigen, die andere qualifizieren oder dazu beauftragen, müssen fit werden, schlank, intelligent, kreativ, maßvoll, strategie- und menschenorientiert.

Bei der Einführung von Projektmanagement glaubt man zum Beispiel oft, dass Projekte ab einer entsprechenden Vorstandsentscheidung, in jedem Fall aber nach Einsetzung der Gremien funktionieren können. Der zusätzliche Lernbedarf wird oft nicht erkannt oder nicht ernst genommen, wie zum Beispiel die Entwicklung einer Kultur der Zusammenarbeit in den zum Projektmanagement gehörenden Rollen und Zuständigkeiten. Linienverantwortliche müssen sich zu Projekten konstruktiv stellen und die Projekt-Mitarbeiter angemessen auswählen, begleiten, für ihre Aufgaben freistellen und mit Mitteln und Einfluss ausstatten. Sie müssen sicherstellen, dass das Projekt durch die Führungsebenen, die sie irgendwann in den Regelvollzug ihrer Unternehmenssteuerung übernehmen müssen, autorisiert und gefördert wird. Organisationsentwicklung bleibt letztlich Chefsache. Bei Innovationsvorhaben muss man mit Kulturinvestitionen in Vorleistung gehen. Diese müssen auch realistisch dimensioniert werden, damit die innovativen Systeme nach vernünftiger Zeit auch ihre Beiträge leisten können. Wie viel wirtschaftliche Kraft und professionelles Engagement hier erfolglos verbraucht und dabei auch geschädigt wird, lässt sich nur erahnen.

Auch bei Beratung ist Qualität entscheidend
Viele Verantwortliche sind unter ihrer dynamischen Oberfläche verwirrt und mutlos. Dies erklärt teilweise die zunehmende Wichtigkeit von Beratung aller Art. Allerdings muss man auch hier sorgfältig prüfen, ob Beratung vom Auftrag her oder in der Weise, wie sie durchgeführt wird, überhaupt richtig platziert ist und hilfreich sein kann. Der inflationäre und zum Teil konzeptionslose Konsum von Beratung, oft in einer Mixtur von Beratungsansätzen zur selben Sache, ist eher ein Ausdruck von Krise und Zusatzbelastung als entscheidende Hilfe zur Krisenbewältigung. Nicht die Quantität von Beratung, sondern ihre Qualität ist entscheidend. Sie ist durch das Renommee des Anbieters nicht automatisch gegeben. Manche Ansätze haben den Charakter einer Modedroge. Und das Ergebnis von Beratung kann längerfristig nur so gut sein, wie das komplementäre Wahrnehmen von Management- und Führungsverantwortung durch die Internen. Viel zu viele Wert- und Hoffnungsbegriffe im Bereich Organisations-⁄Personalentwicklung verhindern, diesbezügliche Herausforderungen klar zu erkennen und Verhaltenskonsequenzen ernst zu nehmen. System- und Prozessbetrachtungen und Modelle von dynamischem Chaos und der Selbstorganisation lebender Systeme sind notwendig und richtig; sie tragen jedoch oft auch dazu bei, den Rückbezug auf das handelnde Subjekt aus den Augen zu verlieren.

Die Schwierigkeit besteht darin, die Verantwortung der Subjekte in der heutigen Dynamik und Komplexität neu zu definieren. Die Erosion der Verantwortung in Systemen hat viel mit der Verwirrung persönlicher Verantwortung zu tun. Selbst aus der Sprache sind oft die handelnden Subjekte eliminiert und durch Scheinsubjekte (»Der Prozess stagniert«) oder Passivformulierungen (»Aktionen wurden unterlassen«) ersetzt. Berater brauchen hier Augenmaß, Urteilsvermögen und Unbestechlichkeit genauso wie Engagement, Schöpfergeist, Mut zum Konfrontieren sowie Demut und Zuneigung zu den Menschen, für die sie arbeiten und deren Ressourcen sie in Anspruch nehmen.

Die Neubelebung klassischer Tugenden
Trotz der bekannten Inflation an Modebegriffen ist kaum etwas an Ideen wirklich neu. Die Dienstleistungsanbieter kommen bei der Formulierung ihrer Angebote jedoch unter Druck, wenn ihnen abverlangt wird, dass Modebegriffe genannt sein müssen, um Modernität zu dokumentieren. Mit der Förderung klassischer Tugenden, an denen es oft viel mehr mangelt, ist schwer zu überzeugen. Dabei geht es vorrangig um eine Lernkultur, in der Menschen kollegial und unter Anleitung von Supervisoren immer wieder neu versuchen, eingefahrene Lösungswege und Rollenverständnisse zu verlassen und mit Neuem zu experimentieren. Sie reflektieren diese Experimente und relevantes Feedback dazu, um bessere Ansätze aus derselben experimentellen Haltung nachfolgen zu lassen. Es geht um die in Lernkultur kontrollierte schöpferische Anpassung an immer wieder neue Herausforderungen und damit um die Neufassung persönlicher Kompetenz und Verantwortung der Subjekte.

Anstatt neue Begriffe zu prägen, ist es oft hilfreich, klassische Begriffe, die bedeutungsmäßig blass geworden sind oder Fehlentwicklungen erfahren haben, neu zu konturieren und zu nutzen. Als Beispiele möchte ich zwei zentrale klassische Begriffe nennen:

:: Strategisches Management: Strategisches Management meint die Fähigkeit, Steuersysteme zu konzipieren, die zielorientiert Steuerung durch Organisationsstrukturen und -abläufe mit zugänglichen Ressourcen ermöglichen. Wer in Weiterbildungs-Curricula komplexe, aber handlungsgeeignete Designs skizzieren und kollegial diskutieren lässt, erkennt, welcher Sorgfalt die Entwicklung einer entsprechenden strategischen Managementfähigkeit wirklich bedarf. Das Üben in solchen Designerqualitäten, das Vorstellen von Skizzen in der kollegialen Beratung, das Herstellen von Beratungsfestigkeit nach professionellen Kriterien im Kreise Ebenbürtiger verbessert Management und einen realistischen und konstruktiven Umgang mit der Ressource Managementfähigkeit im Unternehmen.

Manch einer erkennt, dass ihm strategisches Management nicht liegt bzw. seine Talente mangels Weiterbildung brach liegen. Einer Schulung und fortlaufenden Supervision im konkreten Alltag müsste hohe Priorität zuerkannt werden. Nur so können der Managementbedarf und die wirklich verfügbaren Managementfähigkeiten im Unternehmen zum Ausgleich gebracht und ein angemessener Entwicklungsweg beschritten werden. Manch einer, der sich sein Manko an strategischem Management mit fehlender Zeit und überwältigendem Ausmaß an operativer Steuerung erklärt, vermeidet zu merken, dass ihm auch dann, wenn er Zeit hat, strategisch nichts Sinnvolles einfällt.

Gemeint sind hier nicht nur die großen strategischen Managementaufgaben, sondern auch die vielen kleineren Aufgaben. Zum Beispiel die Management-Strategie für die Herstellung einer neuen Bildungsbroschüre im eigenen Bereich. Hier muss neu konzipiert werden, wie künftig Bildungsbedarf festgestellt werden soll, wie – bezogen auf diesen Bedarf – Programme definiert und Angebote erstellt werden können, wie innerhalb der Bildungsabteilung Ressourcen dafür generiert, Aufträge erteilt und deren angemessene Bearbeitung sichergestellt wird. Dies muss alles in eine Zeit- und Arbeitsstruktur gebracht und dann führungsmäßig zwischen Menschen umgesetzt werden. Hinzu kommt also auch strategische Führung.

:: Strategische Führung: Das heißt: Führungsbeziehungen werden so gestaltet, dass die Steuerprinzipien des strategischen Managements in die Selbststeuerung von Menschen und die Ko-Steuerung in Beziehungen und Systemen umgesetzt wird. Es geht also um eine vernetzte Verinnerlichung von strategischem Management in Menschen und menschlichen Beziehungen und deren Etablierung und Kontrolle durch Führungsbeziehungen.

Führung ohne Führung geht nicht. Dennoch wird gerade dieses häufig versucht. Wie oft geschieht es: Grundsteinlegung, viel weiter ist nicht geplant. Der Grundsteinleger kommt Monate später wieder und findet wenig oder Irritierendes vor. Schuldzuschreibungen treffen dann oft alle möglichen Leute, nur nicht die Verantwortlichen top-down. Eigentlich scheint es banal zu sein, dass strategisches Management sich nicht auf Grundsatzentscheidungen ohne zureichende Architektur für Verwirklichung und auf unreifes Wegdelegieren dieser Gestaltungsaufgabe beschränken kann. Ebensowenig kann sich Führung in Personalentscheidungen und Warten, »was daraus wird«, erschöpfen. Gerade dies wird in den oberen Etagen jedoch gelegentlich sogar zum Credo erhoben. Führung und Führungskultur sind jedoch für die Steuerung von Komplexität in Unternehmen elementar und nicht bloß erfreuliche oder unerfreuliche Einfärbung effizienten Handelns.

Führung kann nicht durch Druck ersetzt werden
Auch das Gegenteil dieser These erheben manche zum Credo und hoffen, mit Druck aus Kohle Diamanten machen zu können. Eine zwar übersichtliche, aber recht einfältige Strategie. Richtig ist allerdings, dass schlecht geführten Menschen in einem gewissen Maß Leistung durch Druck abgepresst werden kann. Die negativen Folgen solcher Beeinflussungen zeigen sich oft gerade in Krisenzeiten, in denen man auf gut gewachsene Führungskultur bauen können müsste.

Führung kann nicht durch Training und Beratung ersetzt werden
Ob sich Menschen in Organisationen gewürdigt fühlen, hängt wesentlich vom Erleben der Führungsbeziehungen ab. Trainingsprogramme, Teamentwicklung und Bereichsberatung können tägliche Führung nicht ersetzen. Berater geraten hier immer wieder in Schwierigkeiten, wenn Beratungssituationen unter den Vorzeichen stattfinden, dass Organisations-⁄Personalentwicklungs-Anliegen vorangebracht werden sollen ohne angemessenes Engagement der Management- und Führungsverantwortlichen.

Führungskultur entsteht durch Führung
Ohne weiteres einsichtig und doch sträflich vernachlässigt wird, dass Führungskultur genauso wenig wie Unternehmenskultur durch Proklamationen und Image-Broschüren hergestellt werden kann, sondern sich vorrangig im Verhalten der Schlüsselfiguren, der vorrangigen Kulturträger im Unternehmen, ausdrücken muss. Hier geht es so wie in der Kindererziehung: Kinder lernen nur vielleicht das Wohlverhalten, das man ihnen nahezubringen versucht. Sie lernen aber auf jeden Fall das dabei gezeigte Benehmen der Erzieher. Und ebenfalls wie in der Kindererziehung: Strategisches Management wie strategische Führung brauchen Aufmerksamkeit und Zeit.

Menschen sind zur Verinnerlichung von Steuerungsprinzipien auf verfügbare Mitmenschen angewiesen. Führung bewährt sich an konkreten Beispielen und an Menschen. Wenn sie sich dort bewährt, fördert sie Management- und Führungskultur. Wenn man die Schlüsselkompetenzen Management und Führung ernst nimmt und auf die Komplexität heutiger Steuerungsprobleme ausrichtet, ist ganz schlüssig, dass sie Gegenstand einer ernsthaften Professionalisierung und einer Kulturstrategie sein müssen.

Der Aufbau von Führungskultur erfordert eine Kulturinvestition, die sich erst danach – und dies längerfristig – in Zeitersparnis bei Effizienz auszahlt. Hierzu sind Weitsicht und eine ernsthafte Vergegenwärtigung der mittelfristigen Zusammenhänge nötig.

Das Produkt der Personalarbeit ist eine effiziente und lebenswerte Arbeitswelt
Unternehmensentwicklungen brauchen also neben Strategien auch Identität. Sie müssen wissen, was sie wollen, wie sie es wollen und wer sie dabei sein wollen. Daher geht Unternehmensentwicklung nicht ohne strategie- und identitätsorientierte Unternehmenskultur-Entwicklung. Und Kultur meint immer auch anspruchsvolle Versionen der Lebens- und Arbeitsweisen von Menschen.

Beim Ausgleich von ökonomischen und kulturellen Gesichtspunkten sind Balancestrategien vonnöten. Einmal geht es um die Sicherung des Überlebens und die Kräftigung des Gesamtorganismus in wirtschaftlichen und technischen Dimensionen. Zum anderen aber geht es um Lebensqualität, Sinnerfüllung und Würde der arbeitenden Menschen. Beides ist ohne einander auf Dauer nicht erfolgreich oder sinnlos. Viele Erfolgs- und Zufriedenheitsfaktoren lassen sich bei weitsichtigem und tieferem Einblick nicht auf Zahlen oder Einzelstrategien reduzieren, sondern nur mit dem Begriff Pflege von Unternehmenskultur zusammenfassen.

Personalarbeit – Unternehmenskultur-Strategen am Werk?
Entsprechend der oben vorgetragenen Argumentation sind im Alltag verantwortliche Kulturträger in Management- und Führungsfunktionen entscheidend. Da noch ein weiter Weg bis zur Etablierung entsprechender Kulturen zu gehen ist, erhebt sich die Frage, wer im Unternehmen hier innovative und pflegerische Verantwortung tragen soll. Wer sollte das sein, wenn nicht die Bildungs-, Personal- und Organisationsfachleute, die in der Regel neben der Personalverwaltung im Personalressort angesiedelt sind.

Sollten nicht die Funktionen, die für Unternehmenskultur-Entwicklung bezogen auf Menschen entscheidend sind, im Personalressort liegen? Dies gilt auch in Zeiten der Integration von Personalbetreuungs-Aufgaben in die Linie. Es geht nicht nur um Verschlankung und Dezentralisierung, sondern auch um eine Neuordnung von Zuständigkeiten und Selbstverständnissen im Unternehmen. Auch hier kommt dem Personalressort aktive Kulturverantwortung zu. Fraglich bleibt, ob und in welchem Maß die Verantwortlichen in den Personalbereichen der Unternehmen von einem solchen Selbstverständnis geleitet sind. Sind hier die Schlüsselfiguren willens und in der Lage, Promotoren und Träger von Unternehmenskultur-Entwicklung zu sein? Sind die Weichen dafür gestellt, durch entsprechende Unternehmenskultur-Entwicklung im eigenen Personalbereich Modellhaftes zu entwickeln und Glaubwürdigkeit zu erzeugen? Wenn nicht, ist dies gewollt? Und wer soll dann damit beginnen?

Schlüsselfiguren im Personalressort – Ressourcenmanager oder⁄und Fachleute für Menschen?
In bisher nicht gekanntem Maße stehen die Personalbereiche einer doppelten Herausforderung gegenüber. Einerseits müssen sie aus der fachlichen und wirtschaftlichen Perspektive sparsamer mit Ressourcen umgehen und den eingesetzten Ressourcen zu Wirksamkeit in neuen Dimensionen verhelfen. Dies allein ist schon schwierig genug, aber nur eine Seite der zu gewinnenden Medaille. Auf der anderen Seite steht eine neue Einbeziehung der Menschen. Hierfür müssen neue fachliche Kompetenzprofile und Professionsverständnisse entwickelt werden, nicht nur aus ethischen Gründen, auch allein aus wirtschaftlichen Gründen. Zumindest werden zu hochkomplexen Arbeiten befähigte Menschen aus Unternehmersicht eine genauso kostbare Ressource sein und genauso Gegenstand wirtschaftlicher und strategischer Sorgfalt werden, wie Technologien, Produkte und Märkte. Die kostbare Ressource Mensch bedarf ebenso wie kostbare Maschinen und Steuersysteme eines Fach-Know-Hows der für sie Zuständigen. Hier müssen im Bereich Humanressourcen bisher unkultivierte Professionsfelder urbar gemacht werden.

Gibt es dafür geeignete Landkarten? Wird der Erfolg der Personalverantwortlichen daran gemessen? Ist ihre Professionalität daran ausgerichtet? Stehen die dafür notwendigen Qualifizierungen zur Verfügung oder sind sie zumindest gewollt? Sehen Personalfachleute in einer solchen Entwicklung Chancen für einen Zuwachs an eigener Würde und Lebenszufriedenheit?

Personalpolitik kann sich auch wirtschaftlich auf Dauer nur bewähren, wenn sie kluges Ressourcenmanagement und Kulturpflege gleichzeitig betreibt. Ohne ökonomische Vernunft kann Menschlichkeit in der Unternehmenskultur nicht bewahrt oder entwickelt werden. Aufgrund von ökonomischer Misswirtschaft entstehen sogenannte Sachzwänge, die unmenschliche Folgen zuhauf aufweisen. Menschlichkeit ist im Bereich der Wirtschaft daher selbstverständlich auch eine Frage der klugen Ökonomie. Andererseits: Ein Ressourcenmanagement im Personalbereich ohne Kulturvorstellungen, ohne Sensibilität für Lebensqualität und Würde des Menschen verliert seine Wirksamkeit und seine Legitimation als eigenständiges Ressort.  

 

1 Schmid, Bernd: Kulturverantwortung. Institutsschriften, 1996
2 Schmid, Bernd: Auf der Suche nach der verlorenen Würde – kritische Argumente zur Ethik und Professionalität in Organisationen. In: Zeitschrift für Organisationsentwicklung 3/91, S.47-54

 

URL: http://www.perspektive-blau.de/artikel/0809b/0809b.htm