Selbstverantwortung als Chance – Von der kollektiven Ohnmacht zum wirksamen Handeln im 21. Jahrhundert
Eine immer tiefere Trennung zwischen Freiheit und Veantwortung zeigt sich in Organisationen und Gesellschaft. Destruktive Dynamik macht sich breit, die eine immer größere Eigengesetzlichkeit gewinnt. Den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wird aber kaum gerecht, wer weiterhin Verantwortung abgibt statt Mitverantwortung zu übernehmen. Nur eine koordinierte Verantwortungsübernahme durch Politik und Bürger kann aus der Sackgasse der kollektiven Ohnmacht wieder herausführen.

Walter Slupetzky

        


 
eil wir anscheinend noch immer sehr stark in Lösungen des 20. Jahrhunderts denken, können wir den Problemen des 21. Jahrhunderts oft nicht adäquat begegnen. Wir reagieren erst, wenn Probleme konkret spürbar werden und reparieren dann in kausalen Schrittfolgen.

In einer globalen Welt zeigen sich die Probleme jedoch höchst indirekt. So ist etwa das Gift der Abwasserrohre und Fabrikschlote riechbar, messbar und bedroht uns direkt. Das CO2 aus unseren Autos und Heizanlagen ist nicht spürbar, wirkt irgendwo in der Atmosphäre und macht sich in seiner höchst bedrohlichen Dramatik nur auf eine ziemlich abstrakte Weise bemerkbar.

Auch die Bedrohung von Arbeitsplätzen ist nicht mehr an handelnden Personen festmachbar. In einer Weltwirtschaft kämpfen wir gegen anonyme KonkurrentInnen auf der anderen Seite der Weltkugel, die sich weder an Sozial-, noch an Ökostandards halten. Gleichzeitig kaufen wir genau denen die Waren ab, die sich mit ungleichem Wettbewerb auf unsere Kosten Vorteile verschaffen und die Regeln eines »Fair Trade« keinesfalls erfüllen.

Freiheit ohne Verantwortung?
Es gibt noch viele weitere Beispiele die zeigen, dass wir heute ein deutlich größeres Maß an Eigenverantwortung des einzelnen Menschen benötigen. Sich mit abstrakten Problemzusammenhängen auseinander zu setzen und eigenverantwortlich Konsequenzen im Handeln zu ziehen ist im 21. Jahrhundert gefragt.

Gleichzeitig ist aber bei der Bereitschaft, sich verantwortlich für seine Handlungen zu fühlen, eher eine gegenteilige Tendenz zu bemerken. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, ihre Verantwortung von ihrer Freiheit abzuspalten. Die Freiheit, die unsere Wohlstandsdemokratie ermöglicht, wird selbstverständlich gelebt. Die dazugehörige Verantwortung jedoch geben wir gerne ab – an die Versicherung, an die Politik, an die Chefs, an das Arbeitsamt u.v.m.

Wir sind hier wohl in eine Sackgasse gelaufen. Wir haben die Chance unseres demokratischen Gemeinwesens nicht genützt, um uns in Richtung mehr Freiheit und mehr Verantwortungsbewusstsein weiter zu entwickeln. Im Gegenteil, sind wir in eine immer tiefere Trennung der Verantwortung von der Freiheit versunken. Dieses fatale Spiel, das wir spielen, beraubt uns unserer Würde (als die Fähigkeit, sein Leben selbst kontrollieren zu können) und hat dazu geführt, dass wir unsere Verantwortung nicht einmal mehr verschämt abschieben, sondern es sogar bereits als Recht betrachten, nicht mehr für sie einstehen zu müssen.

Diese Entwicklung spielt sich auf vielen Ebenen ab. In der Arbeitswelt verweigern wir uns häufig der Realität, dass es Eigeninitiative und Bereitschaft zur Selbsthilfe bei der Arbeitsuche geben muss, weil die Versorgung mit Jobs nicht mehr funktioniert. Beim Klimaschutz ist es für uns selbstverständlich, dass Politik und Forschung etwas gegen den Klimawandel zu tun haben, statt dass wir selbst Verantwortung für unseren Energiekonsum übernehmen. Im Fall, dass wirklich spürbare Maßnahmen ergriffen werden, nehmen wir uns auch noch das Recht heraus, darüber erregt zu sein und Widerstand zu leisten. Bei der Ausgestaltung des Generationenvertrages verkennen wir häufig, dass es im letzten Lebensabschnitt nicht nur darum geht, wie die für uns bestimmten Versorgungsleistungen gestaltet werden, sondern dass wir in dieser Lebensphase auch aktiv unser Zusammenleben durch zivilgesellschaftliches und privat-familiäres Engagement bereichern können.

Das Dilemma der Politik
Politik und BürgerInnen haben in diesem »Spiel« ein stilles Einverständnis gefunden. Die Politik hat stillschweigend den Menschen die Eigenverantwortung abgenommen und sich damit in ein Dilemma manövriert:
:: Will sie die von den BürgerInnen delegierte Verantwortung wirksam wahrnehmen, dann muss sie auch deren Freiheit antasten. Als Folge kann mit massivem Widerstand gerechnet werden.
:: Will sie die Freiheit der BürgerInnen hingegen wahren, kann sie die dazugehörige Verantwortung nur scheinbar wahrnehmen. Mogelpackungen, halbherzige Lösungen und Problemabschiebung (auf die nachkommenden Generationen, auf die ärmeren Nachbarländer, auf die »böse« EU, …) sind das Ergebnis, was mit der Zeit – wenn diese Strategie letztendlich durchschaut wird – zu weit verbreitetem Verdruss und dem Gefühl des »nichts geht mehr« führt.

Die Folgen dieses Dilemmas sind wachsende Enttäuschung über die Lösungskompetenz der Politik.

Jene Institution, die in einer solchen Situation für Transparenz sorgen sollte, wären die Medien. Diese treiben das Dilemma jedoch eher noch weiter an, als einen Beitrag zu seiner Beendigung zu leisten. Ihre Aufmerksamkeit liegt nämlich ganz bei der Aufdeckung politischen Versagens. Sie richten damit die Blicke der Gesellschaft auf die politischen Akteure und versäumen es, darüber aufzuklären, dass die BürgerInnen mit ihrer kultivierten Negation der Eigenverantwortung einen maßgeblichen Part in diesem Drama spielen.

In diesem Dilemma-Zirkel nehmen alle Akteure auf ihre Weise die bei ihnen liegende Verantwortung nicht wahr:
:: Die BürgerInnen nützen ihre Freiheit meist nicht, um für die Probleme unserer Zeit eigeninitiativ Mitverantwortung zu übernehmen, sondern lassen sich lieber mit Lösungen versorgen.
:: Die Politik nützt ihre Möglichkeiten in der Regel nicht, um Mitverantwortung einzufordern und zu organisieren, sondern versorgt ihre BürgerInnen lieber mit Problemverwaltung und dem guten Gewissen, dass andere zuständig sind.
:: Die Medien nützen ihre Rolle vielfach nicht, um die Aufdeckung politischer Unzulänglichkeit mit der Aufklärung zu verbinden, dass PolitikerInnen die Probleme unserer Zeit nicht alleine lösen können und auch die BürgerInnen ihren Beitrag zu leisten haben, sondern sie beschränken sich lieber darauf, erstere als Sündenbock zu zelebrieren.

Was dabei auf der Strecke bleibt, sind wirkungsvolle Lösungen für die zentralen Probleme des 21. Jahrhunderts. Themen wie Klimaschutz, globaler Arbeitsmarkt, Casino-Kapitalismus, Zusammenbruch der natürlichen Ressourcen, Umwälzung des Generationenvertrages u.a.m. fallen zwischen allen Stühlen durch.

Aber auch die einzelnen Akteure bezahlen ihren Preis:
:: Die BürgerInnen können nie zufrieden sein, weil nur dann wirksame Lösungen möglich sind, wenn sie selbst aktiv Mitverantwortung übernehmen. Politikverdrossenheit ist daher immer auch Selbstverdrossenheit.
:: Die Politik kann nie zufrieden stellen, weil sie ohne Bereitschaft der BürgerInnen zur Mitverantwortung keine erfolgreichen Lösungen zustande bringen kann. Willfährigkeit führt nicht zu Wertschätzung, sondern nur zu noch unerfüllbareren Ansprüchen.
:: Die Medien reduzieren sich auf die Produktion von Erregung und Aufsehen, weil sie ohne Aufklärung in der Belanglosigkeit verbleiben. Die täglichen Sensationen führen nicht zur Bedeutsamkeit.

Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert
Was es braucht, ist eine zweite Aufklärung, die den Menschen verdeutlicht, dass es im 21. Jahrhundert anders läuft, als bisher:

1. Die Unteilbarkeit von Freiheit und Verantwortung ist für jeden einzelnen Menschen die zentrale Herausforderung in einer Zeit, mit deutlich gesteigerten Anforderungen an die Eigenverantwortung im gesellschaftlichen Zusammenleben. In einer komplex gewordenen Welt funktioniert die Abspaltung und Delegation von Verantwortung nicht mehr so leicht, wie früher.

2. Eine Bewusstseinsbildung für jene indirekten Probleme, die typisch für das 21. Jahrhundert sind, ist Voraussetzung, um eigenverantwortlich handeln zu können: Einerseits ist es notwendig, mehr Achtsamkeit in unserem Handeln zu entwickeln, weil es Auswirkungen hat, die wir nicht immer gleich merken, dafür aber umso drastischere Spätfolgen nach sich ziehen kann. Andererseits brauchen wir eine Einstellung auf einen höheren Abstraktionsgrad bei der Erfassung und Lösung von Problemen als bisher.

3. Ein rascher Know-how Aufbau für den zeitgemäßen Lebensstil im 21. Jahrhundert ist das Gebot der Stunde, weil den Menschen das Wissen dafür fehlt. Dieses Wissen um eine zukunftstaugliche Lebensgestaltung ist auch am Ende der ersten Dekade unseres Jahrhunderts noch immer in den Händen von einigen wenigen SpezialistInnen. Die breite Bevölkerung – Spitzenfunktionäre aus Politik und Wirtschaft eingeschlossen – ist davon noch kaum berührt. Eine umfassende Bildungsoffensive für den Know-how Transfer wäre dringend geboten.

Es muss uns klar werden, dass eigenverantwortliches Engagement in unserer Zeit nicht mehr nur eine Möglichkeit darstellt, sondern zu einer inneren Verpflichtung geworden ist. Die Zeiten der Versorgungsdemokratie sind vorbei. Der Kredit aus der Zukunft ist längst verspielt. Die ungestrafte Externalisierung von Kosten stößt an ihre Grenzen. Wir müssen jetzt bei uns anfangen.

Wer kann uns dabei unterstützen?
Die Politik, indem sie sich für bewusstseinsbildende statt (mehrheits-)verwaltende Strategien entscheidet. Es geht darum, dass man die BürgerInnen in die Mitverantwortung einbindet – durch Auseinandersetzung, durch Einfordern von Engagement, durch Aufforderung zur Stellungnahme u.v.m.

Das erfordert einen Wandel im Selbstverständnis der Politik, der sich in drei Schritten darstellen lässt: Von der zentralen Allmacht über die dezentrale Ohnmacht hin zur koordinierten Verantwortungsübernahme.

Noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte die Politik als oberste Steuerungsinstanz agieren und beispielsweise den Abbau von Arbeitsplätzen direkt verhindern. Diese Phase der »zentralen Allmacht« ging in den 1980er Jahren vorbei.

Mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in relativ autonome Teilbereiche ist zum Jahrtausendwechsel eine große Ratlosigkeit entstanden. Statt Strukturen für eine dezentrale Koordination zu schaffen, in deren Rahmen gut abgestimmt und in geteilten Rollen eine gemeinsame Verantwortung übernommen werden kann, ist man in eine Form der »dezentralen Ohnmacht« hineingeschlittert. Die BürgerInnen nehmen Verantwortung nicht wahr, die nur sie übernehmen können. Die Politik übernimmt Verantwortung, der sie nicht entsprechen kann. Die Medien nehmen ihre Verantwortung nicht wahr, darüber aufzuklären.

»Koordinierte Verantwortungsübernahme«, auch als »dezentrale Koordination« bezeichnet, hat sich zwar schon seit längerer Zeit in der wissenschaftlichen Diskussion als Antwort auf die Herausforderungen der modernen Gesellschaft herauskristallisiert. Doch diese wird bis heute nur zwischen den institutionellen Akteuren gelebt. Herausragende Beispiele sind hierfür der Aufbau einer europäischen Flugzeugindustrie (Airbus), als koordiniertes Vorgehen von Forschung, Industrie und Politik, oder das österreichische Modell der »Arbeitsstiftung«, als fein abgestimmtes, rasch wirksames und hocheffizientes Instrument von Unternehmen, Sozialpartnern und Politik zur erfolgreichen Bewältigung von Massenentlassungen.

Wir werden aus der Sackgasse der »dezentralen Ohnmacht« nur herausfinden, wenn diese koordinierte Verantwortungsübernahme auch mit den BürgerInnen gelingt. Hier stehen wir völlig am Anfang, sind aber nicht gänzlich ohne Erfahrungen. Einer der punktuellen Erfolge im koordinierten Vorgehen von Bürgern, Politik und anderen Institutionen ist etwa bei der Mülltrennung gelungen. Bürger, Politik, Verwaltung und Entsorger haben gut abgestimmt und mit Hilfe eines intensiven »Lernprogramms« gemeinsam Verantwortung über den bewussten Umgang mit Wertstoffen übernommen. Solche Erfahrungen mit einzelnen Initiativen geben Hoffnung, dass dies auch in systematischerer Form gelingt, etwa:
:: beim Kampf gegen den Klimakollaps
:: im nachberuflichen bürgerschaftlichen Engagement von aktiv gebliebenen PensionistInnen als eigenverantwortlicher Beitrag zur Neugestaltung des Generationenvertrages
:: bei der Durchsetzung von »Fair Trade« als Grundlage eines freien Marktes, der soziale und ökologische Anforderungen respektiert
:: bei der Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem funktionierenden Rahmen für unser gesellschaftliches Zusammenleben
:: etc.

Aber auch die Medien können uns unterstützen, indem sie neben der Aufdeckung auch konsequent auf Aufklärung setzen und sich aktiv an der Organisation von Mitverantwortung beteiligen.

Jedenfalls sollten wir nicht noch weitere zehn Jahre warten, um Selbstverantwortung als Chance zu ergreifen und uns endlich auf den Weg ins 21. Jahrhundert machen!  

URL: http://www.perspektive-blau.de/artikel/0812c/0812c.htm