Trendradar: Age of Less
Schwarzmaler und Untergangspropheten haben derzeit Hochkonjunktur. Gleichzeitig steigt die Sehnsucht nach Ideen für eine bessere Welt. Werfen wir einen realistischen Blick in die Zukunft: Der Wandel hat auch seine guten Seiten. Im angebrochenen Age of Less definiert sich angesichts neuer Knappheiten der Konsum neu. Ein Streifzug durch Trends und Gegentrends, die die  – zuweilen auch widersprüchlichen – Facetten des angebrochenen Age of Less zeigen.

Alain Egli

        


 
ie Rohstoffe werden knapper, das Vertrauen schwindet und der Konsum definiert sich neu. Verzicht, Bescheidenheit und Einfachheit sind im Kommen und eröffnen neue Möglichkeiten. Im Age of Less zeigt sich, dass der Wandel auch sein Gutes hat.
1. Hoffnung: Von schwarzen Schwänen zum leuchtenden Phönix
Skandale und Katastrophen ohne Ende. Die Experten sehen schwarz: für die Umwelt, für die Finanzwirtschaft, für die überalterten, westlichen Großmächte. Es geht uns jeden Tag in jeder Hinsicht schlechter und schlechter. Die Welt scheint außer Kontrolle, in fester Hand von »schwarzen Schwänen«, wie es der Autor Nassim N. Taleb nennt: extrem unwahrscheinliche Ereignisse mit gewaltigen negativen Folgen, denen wir hilflos ausgeliefert sind.

Für Realisten bestehen zurzeit viele gute Gründe für Angst. Wer jetzt Hoffnung spendet, wird daher mit offenen Armen empfangen. Denn unser Selbsterhaltungstrieb lässt uns nach Auswegen und Perspektiven suchen, die uns den Glauben an die Zukunft zurückgeben. Diese Zukunft gehört daher nicht den Untergangspropheten. Sie gehört jenen Unternehmern und Politikern, die mit neuen Ideen für eine bessere Welt und mit Geschichten vom »nächsten großen Ding« unseren Möglichkeitssinn anregen und den Innovationsgeist antreiben. Im Age of Less wird nicht mehr Hysterie nachgefragt, sondern Hoffnung, die wie der sprichwörtliche Phönix aus der Asche aufersteht.

2. Nachhaltigkeit: Von der Bio-Frucht zur Umwelt-Furcht
Yes we can: Mit optimistischen Versprechungen lassen sich Erfolge erzielen – das erleben wir aktuell auch in der Vermarktung von Umweltsehnsüchten. Findige Anbieter preisen immer zahlreichere Konsumgüter als »nachhaltig produziert« an, von Nahrungsmitteln über Waschmittel bis hin zu Autos. Für diesen Mehrwert greifen die Kunden tiefer in die Tasche, selbst – oder erst recht – dann, wenn sie ihren Konsum eigentlich drosseln möchten.

Mit Öko-Apellen lassen sich daher auch im Age of Less gute Geschäfte machen, zumal das Umweltbewusstsein nach einer Baisse am Ende des vergangenen Jahrhunderts wieder erwacht ist. In Bälde wird eine weitere Opportunität hinzukommen: Das Geschäft mit der Angst. Live übertragene Dürren, Orkane und Überschwemmungen dokumentieren die Folgen des Klimawandels in Echtzeit. Und sie lassen die bedrohlichsten Szenarien der Klimaforscher immer plausibler erscheinen. Davon dürfte der Schutzmarkt von Versicherungen bis Wehrbauten profitieren.

3. Mobilität: Vom Fernflug zur Landflucht
Auch wenn die Benzinpreise nach dem Sommerschock wieder gesunken sind: Öl wird knapp, und Knappes ist teuer. Eine wachsende Weltbevölkerung wird die Nachfrage zusätzlich vergrößern, in den so genannten aufstrebenden Märkten gar überproportional. Das bleibt für unsere Mobilität nicht ohne Folgen. Die Wochenendtrips nach London und der Weihnachtseinkauf in New York werden im Age of Less für die meisten von uns ebenso unerschwinglich wie Fernreisen in unberührte Gegenden.

Selbst wer auf Elektrizität setzt, bleibt nicht verschont: Teureres Rohöl erhöht die Nachfrage nach dem Substitut Strom und damit auch seinen Preis – zumindest so lange, bis die erneuerbare Energie von Wind, Sonne oder Gezeiten den Schritt von der technischen Spielerei zur massentauglichen Alternative geschafft hat. Wir müssen uns darum an einen kleineren Maßstab gewöhnen. Distanzen werden wieder zum Thema: Leben auf dem Land, Arbeiten in der Stadt und Einkaufen auf der grünen Wiese – das wird angesichts steigender Energiepreise schlicht zu teuer. Städte gewinnen im Gegenzug an Attraktivität. Wir werden näher zusammenrücken müssen.

4. Status: Vom Geltungskonsum zum Geltungsverzicht
Mit der Sorge um die Umwelt wachsen die Schuldgefühle und als Folge davon die Bereitschaft zu Sühne und Ablass. Gleichzeitig sinkt durch den allgemeinen Trend zur Moralisierung die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Verschwendung. Luxus belastet das Gewissen daher immer stärker. Selbst wer sich einen Offroader finanziell weiterhin leisten könnte, fühlt sich mit ihm nun zunehmend unwohl. Das schlechte Gewissen verlangt nach demonstrativen Opfern, die immer unberechenbareren höheren Gewalten der Natur und des Marktes ebenso.

Bewusster Konsum bedeutet darum auch demonstrativen Verzicht, auf den berühmten ostentativen Geltungskonsum (»conspicuous consumption«) des Ökonomen Thorstein Veblen folgt heute der ostentative Geltungsverzicht. Denn geopfert werden zuerst Dinge, die sichtbar sind, und auf die man leicht verzichten kann, zumal man damit niemanden mehr beeindruckt – also die traditionellen Symbole des Luxus und der Verschwendung wie teure Uhren, Handtaschen, Mode oder Autos.

5. Bescheidenheit: Von «Cashing In» zu «Cashing Out»
Jede Krise erteilt auch Lektionen. Der aktuelle Abschwung könnte zur einmaligen Lehrstunde werden. Eine neue, vor kurzem noch undenkbare Bescheidenheit zeichnet sich ab. Plötzlich verzichten Unternehmen auf neue Prestigebauten, Banker auf hohe Boni und amerikanische Konsumenten auf große Autos.

Die amerikanische Trendforscherin Faith Popcorn bringt es auf den Punkt: »Cashing Out« heißt die neue Lebensphilosophie im Age of Less, Ballast abwerfen, einfacher leben. Weniger wird mehr, und Verzicht eine Tugend. Doch aufgepasst, Zurückhaltung und Selbstbeschränkung stellen keinen Verlust dar. Im Gegenteil, »Cashing Out« ist befreiend. Es bedeutet, aus dem westlichen Leistungskult auszubrechen und neue Lebensqualität dazuzugewinnen.

6. Einfachheit: Von Lohas zu Lovos
Jetzt kommen die Lovos-Anhänger. Die Abkürzung steht für Lifestyle of Voluntary Simplicity, und seine Jünger pflegen einen Lebensstil der freiwilligen Einfachheit mit bewussterem Konsum bis hin zum Konsumverzicht. Im Gegensatz zum Lohas (Lifestyle of Health and Sustainability) geht es aber nicht »nur« um den Kauf von nachhaltigen Produkten, sondern um neue, weniger aufwändige Lebens-, Produktions- und Konsummodelle.

Die von der US-Autorin Elizabeth Royte losgetretene Kontroverse um die »Bottlemania« zeigt die Stoßrichtung: In Flaschen abgefülltes Wasser sei ein Milliardengeschäft, obwohl die Trinkwassersysteme westlicher Länder zu den saubersten und sichersten Wasserquellen gehörten. Jetzt weigerten sich immer mehr Menschen, Geld für etwas auszugeben, das die Umwelt belaste und in fast derselben Qualität fast überall kostenlos zur Verfügung stehe. Im Age of Less sind Umweltbewusstsein und Rezession die Triebfedern der Lovos-Bewegung.

7. Landwirte: Von Bauern zu Großstadt-Promis
Amy Hepworth hat bereits eine richtige Fangemeinde. Die amerikanische Bäuerin besitzt eine Farm 150 Kilometer außerhalb von New York City, und es gibt Leute, die ausschließlich ihre Produkte kaufen. Den Ruhm verdankt Hepworth dem Bio-Supermarkt Wholefoods, der lokal produzierte Produkte fördert und den Konsumenten seine Landwirte im Supermarkt live vorstellt. Der Andrang ist jeweils groß, wenn die Produzenten von ihrer Arbeit und der Farm erzählen. Zum »Meet the Farmer«-Programm von Wholefoods gehört auch eine Online-Plattform, auf der sich die Hersteller in Video, Foto und Text präsentieren.

Grund für den Erfolg des Konzepts ist die Verunsicherung der Konsumenten im Age of Less. Längst können sie nicht mehr sagen, welche Nahrung gut für sie ist und welche schlecht. Daher wollen sie jetzt wissen, wo ihre Karotte wuchs und auf welcher Wiese ihr Steak auf welche Weise aufgezogen wurde. Regionale Produkte genießen besonderes Vertrauen, weil sie den Konsumenten physisch und damit auch psychologisch nahe sind. Daher gewinnen auch Wochenmärkte an Bedeutung, auf denen der Bauer seine eigene Ware verkauft. Plötzlich rücken die Bauern ins Zentrum des Konsumentenbewusstseins.

8. Massenfertigung: Von pfui zu hui
Es ist paradox: Einerseits hat das steigende Misstrauen gegenüber der Wirtschaft dazu geführt, dass immer mehr Menschen sich nach einer »Entindustrialisierung« sehnen: regionale Produkte, Handgefertigtes, Eigenbau – nur ja keine Massenfertigung. Andererseits kündet das Age of Less mit seinen dräuenden Verteilungskämpfen um Wasser und Brot eine Neuerfindung der industrialisierten Agrarwirtschaft an. Denn um die dereinst neun Milliarden Münder des Jahres 2050 zu füttern, braucht es radikale technologische Innovationen.

Entgegen allen romantischen Sehnsüchten muss die dringend notwendige Grüne Revolution des 21. Jahrhunderts neue Lösungen bezüglich industrieller Massenproduktion und Verteilung finden. Ein entsprechendes Konzept hat Dickson Despommier von der Columbia University, New York angedacht: vertikale Treibhäuser, um die Produktionsorte in die unmittelbare Nähe verdichteter Städte zu verlegen. Die große Herausforderung wird darin bestehen, die Fehler der »alten« Industrialisierung zu vermeiden und stattdessen sozial und ökologisch nachhaltig zu handeln: eine Übersetzung des »guten« Produzierens auf die Massenebene.  

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI); www.gdi.ch.

URL: http://www.perspektive-blau.de/artikel/0901a/0901a.htm