Wie gerecht geht es in Deutschland zu?
Im sozialen Miteinander bedarf es eines angemessenen Ausgleichs der Interessen und der Verteilung von Gütern und Chancen zwischen den beteiligten Personen. Als Grundnorm menschlichen Zusammenlebens wird Gerechtigkeit betrachtet: sie bestimmt Handlungs- und Rechtsnormen für die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Aber was ist Gerechtigkeit überhaupt? Und wie steht es in Deutschland um die Gerechtigkeit?

Ulf D. Posé

        


 
s geht ungerecht zu; ein nicht selten gehörter Vorwurf aus Kreisen der Politik, der Medien, der Kultur, des Stammtisches. Diese Vorwürfe argumentieren immer in moralischen Kategorien. Moral ist seit Cicero nichts anderes als der Normenkatalog einer Gesellschaft, der die Sozialverträglichkeit sichert. Für mich greift aber Moral hier zu kurz. Warum? Weil jede Gesellschaft eine andere Moral entwickelt, jede Gesellschaft die soziale Verträglichkeit und Gerechtigkeit anders sichert. Die Franzosen halten andere Dinge für moralisch gerechtfertigt als die Italiener, die Inder, die Griechen oder die Deutschen. Die Frage der Gerechtigkeit ist jedoch mittlerweile eine internationale, ja globale Frage geworden. Und die lässt sich nicht mehr über moralische Kategorien beantworten, sondern wahrscheinlich nur noch über eine ethische Komponente, die über enge, gesellschaftliche Grenzen hinaus geht.

Daher möchte ich die Diskussion um Ethik erweitern, also um die Wissenschaft, die gesellschaftsunabhängig hohe zu schützende Güter entwickelt und prüft, inwieweit Handlungen geeignet sind, diese hohen Güter auch zu schützen. Denn im Kern ist Gerechtigkeit eine der Kernfragen der Ethik. Die öffentliche Diskussion zeigt vor allem eines: Dass es uns an geeigneten Maßstäben fehlt, um zu beurteilen, ob gerecht gehandelt wurde oder nicht. Das Problem wird sich jedenfalls nicht dadurch lösen lassen, dass Gerechtigkeit daran gemessen wird, ob bestimmte Bevölkerungsgruppen damit einverstanden sind oder nicht. Bei der Entwicklung solcher Maßstäbe mag ein Blick in die Geschichte helfen.

Gerechtigkeit – was ist das?

Die alten Griechen – Aristoteles
Schon in der Antike war die Frage der Gerechtigkeit Gegenstand intensiver philosophischer Debatten. Aristoteles und sein Lehrmeister Platon begründeten die Prinzipien von Gerechtigkeit mit der Einhaltung von sozialen Normen. Es ging ihnen um das Recht. Aristoteles vertrat in seiner »Nikomachischen Ethik« eine Tugendethik, in der das »Rechte« dann getan war, wenn ein für die Gesellschaft gemeinsames Gut verwirklicht wurde. Gerechtigkeit war für ihn die vornehmste aller Tugenden. Tugenden sind dabei letztlich Dispositionen, die es einem Menschen möglich machen, nach dem Guten zu streben. Dazu muss natürlich das Gute definiert werden.

Aristoteles, als Begründer der philosophischen Disziplin Ethik, war der Überzeugung, dass ein Menschenleben nur dann gelingen kann, wenn es glücklich, gesegnet, erfolgreich ist. Der Fachbegriff dafür war die Eudaimonia. Ein Bürger konnte seiner Meinung nach nur dann diese Eudaimonia erreichen, wenn er das Wohl der anderen Bürger mehrte. Interessanterweise war für Aristoteles nicht der Staat für das Wohl der Menschen verantwortlich, sondern der Bürger selbst. Aristoteles hätte also wahrscheinlich nicht nach vorhandenem Reichtum gefragt, sondern sich gefragt, was Menschen unternehmen, um das Wohl der anderen Bürger zu optimieren.

Aristoteles war es auch, der verschiedene Gerechtigkeiten unterschied. Er kannte die Regelgerechtigkeit, die ausgleichende Gerechtigkeit und die Verteilungsgerechtigkeit.

Welche der unterschiedlichen Gerechtigkeiten welchen Stellenwert besitzt, hat er ebenfalls beantwortet. Für ihn war Regelgerechtigkeit dann vorhanden, wenn man den Gesetzen folgte. Komischerweise wurde nach der Berechtigung der Gesetze nicht gefragt. Die ausgleichende Gerechtigkeit war für ihn das ordnende Prinzip, wenn es um die gesellschaftlichen Beziehungen ging. Also die Art, wie Kauf- oder Dienstverträge zu gestalten sind oder wie Straftatbestände zu behandeln sind. Die verteilende Gerechtigkeit befasst sich mit der Verteilung des vorhandenen Vermögens. Aristoteles war gegen eine Gleichverteilung. Er war dafür, nach Leistungen und Fähigkeiten zu verteilen.

Die Römer – Ulpian
Der römische Jurist Ulpian, der zwischen 211 und 222 zahlreiche Schriften publizierte, hat uns eine bis heute brauchbare Definition von Gerechtigkeit hinterlassen. Heute noch lernen Studenten der Jurisprudenz, wie er Gerechtigkeit verstanden hat. Ulpian definierte Gerechtigkeit als den »festen Willen, einem jeden Menschen sein Recht zukommen zu lassen«. Eine äußerst hilfreiche und nützliche Definition. Kennzeichnet sie doch genau das, was die meisten Menschen unter Gerechtigkeit verstehen. Wir sollten Ulpian dankbar sein.

Das Mittelalter – Thomas von Aquin
Thomas von Aquin (um 1225-1274), der die aristotelische Tugendlehre mit christlichen Anschauungen zusammenführte, unterschied drei Typen von Gerechtigkeit: Die Tauschgerechtigkeit (Vertragsgerechtigkeit), die Verteilungsgerechtigkeit und die Gesetzesgerechtigkeit. Darauf basiert unsere heutige Unterscheidung zwischen Rechten aufgrund von Verträgen (Vertragsgerechtigkeit), Rechten auf Grund von Gesetzen (legale Gerechtigkeit) und Rechten auf Grund der Tatsache, dass Menschen Menschen sind (Grundgerechtigkeit). Grundsätzlich aber ging Thomas von Aquin davon aus, dass jedem Menschen innerhalb der göttlichen Ordnung ein Platz zugewiesen worden sei. Gerechtigkeit war für ihn Übereinstimmung mit der kosmischen Ordnung.

Das ändert freilich nichts daran, dass Menschen mit ihrer Lage unzufrieden sind und sich daher von der Gesellschaft, dem Schicksal, ihrem Leben ungerecht behandelt fühlen.

Die Neuzeit – die Utilitarier
Im 17. Jahrhundert gab es eine englische Partei, die Utilitarier, die dieses Problem lösen wollte, und ihre politischen Ziele danach ausrichtete, was den meisten Menschen wohl tat. Diese Politiker waren nur am Spaß interessiert. Dass daraus eine Ethik-Richtung wurde, konnte niemand ahnen. Der Vordenker war Jeremy Bentham, später James Mill und John Stewart Mill. Laut Bentham sollte das persönliche größtmögliche Glück mit dem gesellschaftlichen größtmöglichen Glück zusammenfallen. Das sei bei der bestehenden Sozialordnung nicht der Fall. Also ist diese zu ändern.

Die Utilitarier wollten juristische, soziale und wirtschaftliche Reformen, um mehr Gerechtigkeit herzustellen. Sie verlangten die Maximierung des Glücks. Einzige Triebfeder dabei war das Lustprinzip. Das Prinzip dieser Ethik lautete: »Handele und entscheide Dich stets so, dass das Glück der meisten Menschen gefördert wird«. Damit war dem Egoismus Tür und Tor geöffnet. Außerdem hatten die Begründer des Utilitarismus nicht bedacht, dass mit der Mehrung des Glücks der Meisten schon auch Minderheiten unterdrückt werden konnten. Das absolute Mehrheitsprinzip war die Regel. Dass darin einige Fehler lagen, wurde den Menschen schon bald bewusst, und so erweiterten sie den Utilitarismus um eine soziale Variante.

Es war John Stewart Mill, der diese Fehler entdeckte. Die Vorstellung vom Glück sei falsch und die Herleitung der Ethik aus der Psychologie eher problematisch. Mill unterschied in der Folge höhere und niedere Lüste. Das Wachstum des Glücks und die schöpferische Kraft korrelierten.

Der Sozial-Utilitarismus wollte zwar immer noch das Glück der meisten Beteiligten, aber nur dann, wenn den Minderheiten dadurch nicht geschadet wurde. Außerdem hatten die Begründer des Utilitarismus nicht bedacht, dass Glück eine Größe ist, die man nicht sauber definieren kann. So kam man auf eine weitere Idee: sozial-utilitaristisch handelte man dann, wenn sich aus dieser Handlung Vorteile für die Schwachen einer Gesellschaft ergeben. So wollte man Gerechtigkeit herstellen.

Das Problem des Utilitarismus bis heute ist: Wie kann man Glück oder Nutzen quantifizierbar und somit bestimmbar machen? Die Kluft zwischen kollektivem Vorteil und individuellem Vorteil scheint unüberbrückbar.

Die Neuzeit – John Rawls
1979 hat der Philosoph John Rawls den Versuch unternommen, diesen Mangel zu beheben. Gerechtigkeit ist im Sinne von John Rawls nicht nur eine moralische Größe, sondern auch spieltheoretisch entwickelt. Der Philosoph John Rawls (1921-2002) entwickelte 1971 eine Theorie, um herauszufinden, wie ein fairer und gerechter Umgang zwischen Menschen hergestellt werden kann. Es ging ihm in einem fiktiven Spiel darum, Menschen herausfinden zu lassen, wie ihr Zusammenleben optimal, und damit gerecht zu gestalten sei. Da auch Rawls Talent, Fähigkeiten und Aussehen nicht verteilen konnte, reduzierte er sein fiktives Spiel auf die Ökonomie. Das Spiel sollte zu einer gerechten Lösung des Gefangenendilemmas führen. Er hatte eine clevere Idee. Er gab in einem Spiel vor, dass kein Spielteilnehmer wissen wird, ob das Schicksal ihn auf die Sonnenseite oder die Schattenseite des Lebens katapultieren wird. Beide Spielteilnehmer sollten jedoch festlegen, wie eine vorhandene Summe auf die beiden verteilt werden darf, also was derjenige verdienen darf, der auf der Schattenseite landet, und was der verdienen darf, der auf der Sonnenseite landet. Zunächst mussten die Spieler festlegen, welchen Lohn derjenige erhalten soll, dem es später nicht so gut geht, wie dem anderen Mitspieler. Da beide Mitspieler nicht wussten, wer von ihnen später derjenige sein wird, der weniger verdienen wird als der andere Mitspieler, waren beide Mitspieler sehr daran interessiert, für einen fairen Lohn zu sorgen. Es ging darum, dass auf jeden Fall genügend Geld für Wohnung, Ernährung, Urlaub, Ausbildung der Kinder vorhanden sein muss. Es ging nicht unbedingt darum, große Sprünge machen zu können, aber regelmäßige Gehaltsaufbesserungen oder Beförderungen sollten auf jeden Fall dabei sein. Nachdem die beiden sich geeinigt hatten, wurde darüber verhandelt, was derjenige bekommen soll, der auf der Sonnenseite landet. Auch hier kam es zur Einigung. Wer ordentlichen Nutzen bietet, der soll auch ordentlich verdienen. Beide dachten ebenfalls daran, dass dieses außerordentliche Gehalt eine soziale Akzeptanz benötigt. Die beiden einigten sich darauf, dass der Besserverdienende ein Gehalt benötigt, das auch von demjenigen akzeptiert werden kann, der deutlich weniger verdient. Beide hätten wohl die Festlegung einer Obergrenze sofort abgelehnt.

Erst nach der Einigung beider auf beide Lohngrößen wurde per Zufallsgenerator festgelegt, wer zukünftig welchen Lohn bekommen wird. Interessant war, wie fair die Mitspieler bei der Festlegung der sehr unterschiedlichen Löhne miteinander umgingen. Diese Verhandlung führte bei beiden zu einem Lohn, der von beiden als gerecht empfunden wurde.

Folgendes Szenario galt für Rawls:
:: Alle Spieler lassen sich ausschließlich von rationalem Selbstinteresse leiten.
:: Alle sind in der Lage, ein »Gerechtigkeitsgefühl« zu entwickeln.
:: Alle entscheiden sich aus unvollständigen Informationen (über die eigene Stellung in der Gesellschaft, über das Maß eigener Intelligenz oder Körperkraft im Vergleich zu der anderer).
:: Niemand soll auf Grund natürlicher oder sozialer Vorgaben bevorzugt oder benachteiligt werden.
:: Die Grundsätze sollen generalisierbar sein. Jeder sollte sie prinzipiell verstehen und danach handeln können.

Für Rawls war es möglich, spieltheoretisch zu ermitteln, was alle Beteiligten zur Findung der gerechten Entlohnung überlegen müssen. Er stellte die entscheidende Frage: »Welches Prinzip setzen wir ein, damit keiner geschädigt wird und der größte Nutzen der größten Zahl erreicht wird?«. Rawls zeigte auf, dass alle Spieler grundsätzlich folgende Spielregeln entwickelten: Erstens haben alle gleiche Grundrechte und Grundpflichten. Zweitens sind soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nur dann gerecht, wenn sich daraus Vorteile für alle ergeben, vornehmlich für die schwächsten Mitspieler.

Damit ließ sich die Frage lösen »Wie kann die Verteilung des Nutzens auf die einzelnen rational begründet werden?«. Doch ist diese spieltheoretische Situation nur ein theoretisches Konstrukt. In der Realität treffen Menschen nicht vollkommen voraussetzungslos zusammen, um über gerechte Anteile zu verhandeln, sondern die Chancen sind bereits mehr oder weniger ungleich verteilt. Zudem werden sie in konkreten Entscheidungssituationen im Allgemeinen eher eine individuell-rationale Lösung wählen – sie wählen, was ihnen persönlich am meisten hilft –, und nicht eine sozial-rationale Lösung. Somit benötigen Unternehmen moralische oder gesetzliche Normen, die die Aufgabe haben, private Gerechtigkeit zu schützen. Nicht zuletzt hat Rawls in seinem Katalog leider Rechte vergessen, die ein Mensch aufgrund seiner Leistungen erwirbt (die Leistungsgerechtigkeit). Solche Leistungsrechte bestimmen aber die Tausch- und Vertragsgerechtigkeit.

Soziale Gerechtigkeit
Auch die soziale Gerechtigkeit wird nicht nur von Politikern immer wieder bemüht, wenn es um die bestmöglichen Zustände in unserem Lande geht.

Ist von sozialer Gerechtigkeit die Rede, dann werden von der Pflicht, von gerechtem Ausgleich, von politischer Korrektheit oder von Sendungsbewusstsein, gesellschaftlicher Solidarität geredet oder es wird behauptet, ein großes Unrecht müsse endlich korrigiert werden.

Karl Marx meinte einmal: »Der allgemeine und als Macht sich konstituierende Neid ist die versteckte Form, in welcher die Habsucht sich herstellt.« Ursprünglich wurde die soziale Gerechtigkeit von den alten Griechen genutzt, um den Neid unter den Menschen zu beseitigen. Die Griechen führten über einen langen Zeitraum die Gleichverteilung von Besitz ein. Leider blieb der Neid, daher schafften die Griechen die soziale Gerechtigkeit als untaugliches Mittel zur Neidbeseitigung wieder ab.

Das Grundgesetz
Das Problem der sozialen Gerechtigkeit ist, dass uns eine verbindliche oder noch besser konsensuelle Definition fehlt. Vielleicht ist das Dilemma entstanden durch den Artikel 20 unseres Grundgesetzes. Darin heißt es: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.« Leider fehlt im Anschluss eine saubere Definition, was denn ein Sozialstaat ist. Das Einzige, was wir in der Verfassung wieder finden ist, dass wir keine sozialen Ansprüche an den Staat geltend machen können, wenn es um Verteilungsgerechtigkeit geht. Soziale Gerechtigkeit will zwar jeder, jedoch lässt sie sich per Staatsdekret nicht herstellen.

August von Hayek
Die soziale Gerechtigkeit tauchte in unserem Land als Begriff erst Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Verschiedene Autoren haben sich darum bemüht, die soziale Gerechtigkeit mit Leben zu füllen. Dazu gehören und gehörten John Rawls, Friedrich August von Hayek, der österreichische Ökonom, der zu den wichtigsten Vertretern der österreichischen Schule der Nationalökonomie gehörte, der indische Wirtschaftswissenschafter Amartya Sen, der amerikanische Sozial- und Moralphilosoph Michael Walzer und sicher auch die Friedrich Ebert Stiftung.

Für diese Autoren zählen zu den wichtigsten Bedingungen der sozialen Gerechtigkeit:
:: Die größtmögliche Menge von Grundfreiheiten, die für alle möglich sind, muss strukturell von einem System angeboten werden.
:: Soziale und wirtschaftlich strukturelle Ungleichheiten müssen den am wenigsten Begünstigten einen möglichst großen Vorteil bringen und dürfen nicht derart sein, dass sie bestimmte Personen strukturell von bestimmten Funktionen ausschließen.
:: Eine Chancenungleichheit ist nur dann akzeptabel, wenn sie die Chancen der Benachteiligten verbessert.
:: Das Unternehmen darf die Wahrnehmung der Grundrechte nur einschränken, wenn so die Wahrnehmung der Grundrechte langfristig verbessert werden kann und die vorübergehende Einschränkung von allen Betroffenen akzeptiert wird.
:: Ein Konsumverzicht auch der Minderbegünstigten kann geboten sein, um zukünftiger Generationen willen (»gerechter Spargrundsatz«). Die Größe des Konsumverzichts bemisst sich an dem, was zukünftige Generationen vernünftigerweise erwarten dürfen.

Das Problem bei allem ist: Wie soll die am wenigsten begünstigte Gruppe festgelegt und nach oben abgegrenzt werden?

So war es denn auch F.A. von Hayek, der die vom Sozialstaat vorgenommene Umverteilung aus drei Gründen für falsch hielt. Er war der Überzeugung, dass der Markt (und damit auch der Arbeitsmarkt) zu einer spontanen Ordnung in der Gesellschaft führt. Das wiederum würde zu einer eigenen Moral führen. Und er meinte: »Diese Moralregeln übersteigen die Fähigkeiten der Vernunft.« Daraus folgerte er, man dürfe sie durch Politik nicht korrigieren. Von Hayek war ebenfalls der Überzeugung, die Marktergebnisse ergäben sich aus nichtbeabsichtigten, individuellen Handlungen. Somit entziehen sie sich letztlich einer gerechtigkeitstheoretischen Bewertung. Zum Dritten war von Hayek der Überzeugung, dass nicht wenige Erfolge der Vergangenheit nur dadurch möglich waren, dass Manager nicht in der Lage waren, das gesellschaftliche Leben bewusst zu steuern.

Diese drei Argumente führten für von Hayek zu einer klaren Ablehnung einer staatlichen Korrektur bei den Einkommensverhältnissen. Er war für Rechtsgleichheit einerseits und Vertragsfreiheit andererseits. Als einzige soziale Maßnahme empfahl er eine transfergestützte Minimalsicherung. Diese wiederum findet sich bereits in Artikel 20 des Grundgesetzes wieder.

Was bedeutet das konkret? Es bedeutet, wer von sozialer Gerechtigkeit spricht, wenn es um die Verteilung vorhandener Geldmengen geht, wählt einen völlig ungeeigneten Begriff.

Selbst Karl Marx hat schon 1875 gefordert: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.« Und auch der SPIEGEL stellte fest, »der Sozialstaat deutscher Prägung« sei »zum Monstrum geworden, das an seiner eigenen Größe zu ersticken« drohe. Der SPIEGEL kam sogar zu der Überzeugung, dass unser Sozialstaat »zutiefst ungerecht« sei »weil er seine Leistungen oft willkürlich und nicht selten an den wirklich Bedürftigen vorbei« verteile.

Mehr Sachverstand, weniger Emotionen
Ich denke, es wäre in der heutigen Situation sicher hilfreich, die Geschichte der sozialen Gerechtigkeit so manchem Politiker oder Gewerkschaftler, auch manchem Wirtschaftsführer hinter die Löffel zu schreiben, wenn er von sozialer Gerechtigkeit schwafelt (und dahinter seinen Neid verbirgt?).

Die öffentliche Diskussion zeigt also, dass wir weder über das, was sozial ist, noch das, was gerecht ist, so richtig Bescheid wissen, obwohl es dieses Wissen gibt. Wir sind in unserem Land möglicherweise viel sozialer und gerechter, als manche Politiker uns suggerieren. Ich will nicht verkennen, dass es sehr vielen Menschen in unserem Land nicht sehr gut geht. Wir haben manchmal Löhne von drei oder vier Euro pro Stunde. Davon kann niemand sein Leben finanzieren. Muss er auch nicht; die Solidargemeinschaft unterstützt ihn.

Ein wenig mehr Sachverstand, ein wenig mehr Kompetenz und etwas weniger Emotionen würden in der Beurteilung der Gerechtigkeit helfen. Leider verfahren derzeit nicht wenige Menschen nach dem Motto: »Was stört mich Wissen, wenn ich doch schon eine Meinung habe.«  

 

URL: http://www.perspektive-blau.de/artikel/0908c/0908c.htm