Die Kunst des Wirtschaftens
Rationalität gilt als vorrangiges Prinzip der Unternehmensführung. Doch befördern die zunehmend komplexen Anforderungen der Unternehmensumwelt die Vermutung, dass Wirtschaften mehr sein muss als vernunftgeleitetes Handeln: Die Führung eines Unternehmens erfordert Kreativität und wird zur Kunstfertigkeit. Kann die Wirtschaft von der Kunst lernen?

Joachim Galuska

        


 
ie weltweite Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass es in der Unternehmensführung in Zukunft nicht mehr reichen wird, sich einseitig an finanziellen Kennzahlen zu orientieren. Die zügellosen Wachstumsphantasien der vergangenen Jahre führten das globale Wirtschaftssystem an den Rand des Zusammenbruchs und erzeugten gleichzeitig eine tiefgreifende Krise der gesellschaftlichen Werte, die als »Bewusstseinskrise« verstanden werden kann. Es fehlte in der Vergangenheit zunehmend an Bewusstsein dafür, dass der Mensch in Zusammenhang mit einer größeren Gemeinschaft, nämlich der Gesellschaft, lebt und dass seine Handlungen unmittelbare Auswirkungen auf diese haben.

Durch die Funktionalisierung des Menschen und der Wirtschaft für rein egoistische Interessen wie Rendite und Gewinn gingen die tieferen menschlichen Werte wie beispielsweise die Verbundenheit der Menschen untereinander, Kollegialität und das Dienen für ein größeres Ganzes immer mehr verloren. Dass ein Unternehmen Gewinn machen muss, um am Markt zu bestehen, steht außer Frage. Aber muss man wirklich um jeden Preis und egal, was dadurch mit dem eigenen Umfeld, den Mitarbeitern und den Partnern passiert, immer größere Gewinne einfahren? Oder kann ein Wachstum auch nachhaltig mit Blick auf die Umwelt des Unternehmens geschehen? Nicht nur in der Wirtschaft ist die derzeitige Bewusstseinskrise zu erkennen.

Auch in den gesellschaftlichen Bereichen Politik und Medien ist die Krise angekommen. Die Politik betreibt kaum mehr Politik um ihretwillen. Es geht in erster Linie um die Eweiterung der eigenen Macht. Wie sonst sollten nicht gehaltene Wahlversprechen oder die offensichtliche Verleugnung guter Ideen, sollten sie vom »feindlichen« Lager kommen, gedeutet werden? Die Medien arbeiten nach demselben Prinzip: Nicht die Vermittlung von Information steht im Vordergrund, sondern die Auflagensteigerung oder die Erhöhung der Quote. So werden Schlagzeilen gedruckt, ohne vorher genau nach den Hintergründen zu fragen oder die Ermittlungen abzuwarten und das teilweise bis zur Rufschädigung.

Notwendigkeit des Umdenkens
In allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen leben wir in einer Situation komplexer werdender Anforderungen. Neben den betriebswirtschaftlichen Herausforderungen wie stetiges Wachstum, Nachhaltigkeit und Gewinnorientierung steigt auch die psychosoziale Belastung des Einzelnen durch individuellen und gesellschaftlichen Stress. Dieser kann hervorgerufen werden beispielsweise durch Leistungsanforderungen, Informationsüberflutung, seelische Verletzungen und berufliche und persönliche Überforderung. Die Dynamik der Märkte tut dabei ihr Übriges. Zeit, um sich langfristig am Markt zu behaupten, bleibt kaum.

Diese Geschwindigkeit und die zunehmende Komplexität erfordern es, dass wir in Zukunft unterschiedliche Werte und Wirtschaftsarten auf kreative Art und Weise zusammenbringen. Hierzu muss ein Unternehmen aus mehreren Perspektiven betrachtet werden. Dabei sind neben einer effizienten Organisation die Mitarbeiterperspektive, die Unternehmenskultur, die Kundenperspektive und natürlich auch die Märkte zu verbinden. Aber auch die soziale und ökologische Verantwortung muss in Zukunft mehr denn je berücksichtigt werden. Durch den internationalen Wettbewerb entsteht eine immer größere Nachfrage nach neuen Ideen und Handlungsansätzen für effektives Wirtschaften.

Wir brauchen in Zukunft eine intelligente Form des Wirtschaftens, die in unseren tiefen inneren Werten gründet, die den Menschen und der Gesellschaft dient, die sich als Teil eines kollektiven kulturellen Prozesses versteht und die zugleich effizient unter den jeweils gegebenen realen Bedingungen wirkt und funktioniert. Eine solche Form des Wirtschaftens gilt in der heutigen Zeit schon als eine Art Kunstfertigkeit. In Zukunft wird eine Kunst des Wirtschaftens nötig sein, die auf eine intelligente und intuitive Form des Wirtschaftens und auf einen Wettbewerb der Unternehmensphilosophien hinauslaufen wird.

Unternehmer als virtuose Künstler
Zunächst mag es paradox klingen, die freie und individuelle Kunst mit der an Vernunft und Rendite ausgerichteten Wirtschaft in Zusammenhang zu bringen. Bei genauerer Betrachtung wird aber deutlich, dass ein Unternehmen nicht starr, sondern dynamisch sein muss, um am Markt bestehen zu können. Unternehmer müssen ihr Unternehmen unter ständig wechselnden und individuellen Bedingungen und, wie zuvor beschrieben, unter zunehmend komplexeren Anforderungen führen und gestalten. Dies gleicht geradezu einer Art Kunstfertigkeit. Die Führung eines Unternehmens lässt sich nicht immer strikt organisieren und berechnen, sie benötigt zusätzlich kreative und schöpferische Einflüsse, die an künstlerische Tätigkeiten angelehnt sind.

In der Kunst steht das intuitive Gestalten im Vordergrund. In der Wirtschaft hingegen die reine Berechnung. Die Intuition eines Künstlers geht über das Wissen, das ein Manager in seiner Tätigkeit verwendet, hinaus. Dies ist eine Eigenschaft, die die Wirtschaft von der Kunst lernen kann. Und genau um diese Frage soll es gehen: Was kann die Wirtschaft von der Kunst lernen?

Besonders darstellende Künstler wie Tanzensembles, Choreografen, Musiker, Regisseure und Orchester zeigen der Wirtschaft auf, wie aus dem Zusammenspiel und der Kreativität von Individuen ein Gesamtkunstwerk erschaffen werden kann, das der Allgemeinheit dient. Jeder nimmt einen Platz ein, in dem er sich zwar auf eine Art und Weise selbst verwirklichen und einbringen kann, im Vordergrund steht aber nur das Konzert, die Tanzaufführung oder der Film als Ganzes. Wäre jeder dieser Künstler nur auf die eigene Verwirklichung bedacht, entstünde ein Chaos auf der Bühne, das kaum mehr zu kontrollieren wäre. Gleichzeitig gibt es bei einem Orchester aber auch immer einen, der führt: der Dirigent. Er vermag es, die Fähigkeiten der Einzelnen so einzusetzen, dass sie ein harmonisches Konzert ergeben.

In der Unternehmensführung ist ein solcher Ansatz ebenfalls denkbar. Nicht umsonst spricht man auch von der »Führungskunst«, die darin besteht, dass eine Führungspersönlichkeit ihr Team oder das Unternehmen so ausrichtet, dass alle Mitarbeiter am selben Strang ziehen und ihre eigene Kreativität zum Wohl des Unternehmens entfalten können. Dafür ist eine Besinnung auf gemeinsame Werte wie Gemeinschaft und Verbundenheit untereinander nötig, da sonst wieder jeder seine eigenen Interessen verfolgt, um auf der Karriereleiter nach oben zu klettern. Persönlichkeiten, die dieses System der »Führungskunst« für sich entdeckt haben, begleiten werteorientierte Unternehmensprozesse unbeirrt, stehen hinter ihren Projekten und Mitarbeitern und treffen klare Entscheidungen. Zudem verfügen sie über Intuition und Autorität, um die Prozesse in die richtigen Bahnen zu lenken und sie an gesellschaftlichen Werten auszurichten. Solche Menschen sind eher virtuoser Künstler als handwerklicher Manager.

Definition eines neuartigen Wettbewerbs
Durch die Möglichkeit jedes Einzelnen, sich in das Unternehmen einzubringen und zu gestalten, wird eine sehr lebendige Unternehmenskultur geschaffen; ein regelrechtes »lebendiges Kunstwerk«. Im Wettbewerb wird sich ein solches Unternehmen in Zukunft durch Exzellenz und Einzigartigkeit auszeichnen. Durch die Vielfalt an Produkten und die sich angleichende Qualität werden die Konsumenten in Zukunft andere Kriterien für die Auswahl eines Unternehmens anwenden als bisher. Nicht allein der Preis wird mehr im Vordergrund stehen, sondern die Frage »Wie kann ich meine Persönlichkeit ausdrücken und unterstützen?«. Im Konsumgüter-Bereich ist eine solche Ausrichtung der Konsumenten schon heute zu erkennen: Der sogenannte »emotionale Mehrwert« eines Produktes ist es, der für die Käufer den Unterschied macht. So wählen sie beispielsweise eine bestimmte Marke, die ihre Lebensgewohnheiten und -einstellungen unterstreicht. Im Dienstleistungsbereich werden die Unternehmenskultur und die Unternehmensphilosophien in Zukunft den Unterschied machen.

Der Wettbewerb zwischen den Marktteilnehmern wird zunehmend losgelöst von Preis und Qualität geführt werden. Kunden werden sich Unternehmen aussuchen, deren Philosophie die eigene Auffassung widerspiegelt. Dies können beispielsweise eine ökologische Ausrichtung des Unternehmens, eine besondere Wahrnehmung der sozialen Verantwortung, die menschliche Mitarbeiterführung oder das Leben von Spiritualität im Unternehmen sein. Das Kaufverhalten wird zukünftig davon bestimmt werden, wie ein Produkt oder eine Dienstleistung hergestellt und präsentiert wird.

Durch eine klare Definition der Unternehmenswerte wird die Einzigartigkeit des jeweiligen Unternehmens herausgestellt und eine deutliche Differenzierung zu Wettbewerbern aufgezeigt. Denn eine Philosophie zu kopieren, die sich durch eigenverantwortliche Mitarbeiter unter einer kreativen und intuitiven Führung entwickelt hat, ist für die Konkurrenz kaum möglich. Ein Produkt in Qualität oder Preis nachzuahmen ist dagegen gängige Praxis in der Konsum- und Dienstleistungsindustrie.

Die »Kunst des Wirtschaftens« ist es daher, in der Unternehmensführung viele einzelne Spieler, Tänzer oder Musiker gestalterisch zu einer Mannschaft, einem Tanzensemble oder einem Orchester zu formen, das eine gemeinsame Philosophie und gemeinsame Werte entwickeln kann. Zieht sich diese Leidenschaft durch das gesamte Unternehmen, dann werden die Kunden, wie auch die Zuhörer eines guten Orchesters oder die Besucher eines Musicals, begeistert sein und die Produkte und Dienstleistungen wählen.  

 

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