Chris Anderson:
The Long Tail – Der lange Schwanz

ISBN: 3446409904
Erscheinungsjahr: 2007
Hanser
David gegen Goliath oder Kleinkram gegen Massenmarkt
 

        


 
laubt man Chris Anderson, dann erleben wir gerade den Niedergang des Kassenschlagers. Und fürwahr spricht einiges für seine These. Nehmen wir den Musikmarkt als Beispiel, zeigt sich, dass der Großteil der meistverkauften Musikalben in den 1970er- und 1980er-Jahren aufgenommen wurden. Seit 2000 entstand dagegen kein einziges Top-25 Album mehr. Wie kommt das?

Chris Anderson wagt einen Erklärungsversuch in seinem Buch The Long Tail: Seit jeher beherrschten Hits den Markt: Kinokassenknüller, Goldene Schallplatten und Fernseheinschaltquoten bestimmten, was in oder out ist. Was gerade angesagt ist, ist die alles bewegende Frage in den Medien und sie ist bis in den letzten Winkel des Konsumgütermarktes vorgedrungen. Wagen wir jedoch einen zweiten Blick, stellen wir schnell fest, dass diese Schlacht um Hits erste Auflösungserscheinungen zeigt. Zwar werden nach wie vor Hitlisten erstellt und es gibt auch immer noch eine Nummer eins. Aber die damit verbundenen Verkaufszahlen kommen nicht heran an jene Zahlen, die die »Nummer eins« von was auch immer einmal versprach.

Nach wie vor sind wir zwar von Hits und Megasellern besessen, jedoch stellen diese nicht mehr die wirtschaftliche Kraft dar, die sie einst waren. Verbraucher wenden sich ab und sind in alle Winde zerstreut, weil sich der Markt in unzählige Nischen zersplittert hat. Auch wenn sich nicht bestreiten lässt, dass nach wie vor eine Nachfrage nach den großen Kassenknüllern besteht, so bilden diese aber nicht länger den einzigen Markt. Heute konkurrieren Hits mit einer fast unbegrenzten Zahl von Nischenmärkten jeder Größe. Das Zeitalter des »one size fits all« geht seinem Ende zu und an seine Stelle tritt ein Markt der Vielfalt. Verbraucher bevorzugen in zunehmendem Maße die Märkte mit der größten Auswahl.

Güter, die bisher unter »ferner liefen« fielen, wurden so lange Zeit übersehen. Merkwürdig eigentlich, denn immerhin geht es dabei um die große Mehrheit: die wenigsten Filme sind Hits, die wenigsten Bücher sind Bestseller, die wenigsten Fernsehsendungen erreichen Traumquoten. Aus dem ehemals kalkulierbaren Massenmarkt mit seinen wenigen Hits und dem zu vernachlässigenden »Rest« wurde ein »Mosaik mit Millionen von Minimärkten und Mikrostars«. Der Massenmarkt zerfällt zunehmend in unzählige Nischen.

So weit, so einleuchtend. Aber wieso stürzten sich die Konsumenten nicht schon früher auf die Nischen – es hat sie immer gegeben –, sondern konsumierten mehr oder weniger uniform? Die Antwort gibt wieder einmal das Internet: Die Nischen sind heute leichter zu erreichen und daher entwickelt sich daraus eine wirtschaftliche Kraft, die nicht länger ignoriert werden kann. Heute, da Verbraucher vernetzt sind und vieles digital ist, hat sich die Ökonomie des Vertriebs radikal verändert. Das Internet sorgt für sinkende Vertriebskosten und unendlich viel »Regalfläche« und definiert nun neu, was kommerziell machbar ist: bisher unrentable Kunden, Produkte und Märkte werden rentabel.

Chris Anderson, Chefredakteur des Internetmagazins Wired und früher bei The Economist tätig, wurde auf dieses Phänomen aufmerksam nachdem er die Verkaufsstatistik eines Unternehmens, das im Internet Musik zum Download anbietet analysierte. Die Wirklichkeit dieses Unternehmens schien die alte 80:20-Regel nach dem Pareto-Prinzip über den Haufen zu werfen. Danach werden 80 Prozent der Umsätze durch 20 Prozent der Produkte erzielt. Gemäß dieser Regel müsste der Großteil des Warenlagers eines Händlers wertlos sein, also Tausende von Musikalben, die zum Download bereitstehen. Die Nachfragekurve zeigte ein paar Hits an der Spitze, die sehr häufig nachgefragt wurden und fiel dann steil ab zu den weniger beliebten Songs. Interessant war jedoch, dass sie nie Null erreichte. Selbst Musiktitel auf den hintersten Verkaufsrängen wurden immerhin einige Male pro Monat heruntergeladen. In der Statistik werden solche Kurven der Häufigkeitsverteilung »Long Tailed« genannt, weil der Schwanz der Kurve im Vergleich zu ihrer Spitze sehr lang ist. Dieser »Rattenschwanz« – der »Long Tail« – gab dem Phänomen den Namen.

Da jeder Song der Musikbibliothek nur Bits in einer Datenbank darstellt, die vernachlässigbare Lager- und Lieferkosten verursachen, wurde schnell klar: Für digitale Inhalte gelten andere Gesetze als die 80:20-Regel. Und das Beispiel des Musikanbieters zeigt auch: Für jedes Angebot findet sich auch ein Nachfrager. Während man sich im klassischen Einzelhandel nicht für Produkte interessiert, die einmal im Quartal über den Ladentisch gehen, gilt im Internet die Regel »Kleinvieh macht auch Mist«. Für den klassischen Einzelhändler ist unzweifelhaft ökonomisch sinnvoll, Regalfläche nicht mit Ladenhütern zu besetzen, denn Regalfläche ist teuer. Im Internet dagegen ist sie fast kostenlos zu haben und daher macht man auch Geschäft mit Produkten, die ein einziges Mal im Quartal verkauft werden.

Wirklich neu an Andersons Buch ist weniger die Idee, als vielmehr die Verpackung in Form eines leicht verständlichen Bildes. Schon 1980 – noch bevor das World Wide Web geboren war – hat Alvin Toffler in seinem Bestseller The Third Wave das Ende von Massenproduktion, Massenkonsum und Massenunterhaltung vorausgesagt. Und Kevin Kelly, der ebenso wie Anderson für Wired arbeitete, kündigte 1998 in seinem Buch New Rules for the New Economy eine Welt der Nischen an: von Produktion und Konsum bis zu Bildung werde alles in Nischen stattfinden.

Am wenigsten überzeugen Andersons Erklärungen, die das andere Ende der Nachfragekurve betreffen, wo die Kassenschlager sitzen. Wenn er auch zugibt, dass Bestseller und Kinoknüller nicht über Nacht verschwinden werden, will uns Anderson doch weismachen, dass die Nachfrage danach langsam abnehmen wird. Unser Geschmack werde sich in Richtung der Nischen verschieben. Diese Schlussfolgerung läuft der Tatsache zuwider, dass der Mensch ein Herdentier ist – und im Internetzeitalter mehr denn je. Ob man Bücher oder Filme oder was auch immer betrachtet: Je mehr davon verkauft wird, desto mehr Menschen wird es geben, die sich davon anziehen lassen und selbst zugreifen, um sich selbst zu überzeugen, ob die ganze Aufregung sich lohnt und um mitreden zu können. Dieser Netzwerkeffekt wird durch das Internet sogar noch verstärkt. Informationen waren nie so leicht verbreitet und Feedback machte nie so schnell seine Runden um den gesamten Erdball.

Soziologen der Columbia University in New York wiesen nach, dass Menschen in ihrem Musikgeschmack der Herde folgen. Sie luden 14.000 Menschen ein, eine Webseite mit 48 Songs relativ unbekannter Bands zu besuchen. Die Personen konnten die Lieder anhören, bewerten und danach entscheiden, ob sie sie herunterladen wollen. Eine Gruppe von Teilnehmern konnte sehen, wie oft ein Lied heruntergeladen wurde; die andere Gruppe erhielt diese Information nicht. Beide Gruppen stimmten ungefähr darüber überein, welche Lieder sie mochten und welche nicht. Jene Teilnehmer, die über die Downloadzahl verfügten, tendierten dazu, bessere Bewertungen für Lieder abzugeben, welche oft heruntergeladen wurden und luden diese selbst weniger oft herunter. Dieses Verhalten löste einen Schneeballeffekt aus: Einige Lieder wurden an die Spitze der Bewertung katapultiert während andere dahindümpelten.

Superhits und Nischenprodukte werden daher auch weiterhin nebeneinander bestehen bleiben. Auch wenn das Phänomen des »Long Tail« in vielen Bereichen Nischenprodukte fördert, heißt das noch lange nicht, dass die Hits bedroht sind.

Für Chris Anderson bedeutet der »Long Tail« letztlich die Demokratisierung der Produktion und des Vertriebs. Trotz einiger Oberflächlichkeiten in der Analyse und einseitig ausgewählter Beispiele beschreibt das Buch zwar nichts wirklich Neues, aber bringt ein Phänomen auf den Punkt, was nie vorher so passend in Worte gefasst wurde. The Long Tail ist schon jetzt ein Klassiker der Wirtschaftsliteratur.  

 

URL: http://www.perspektive-blau.de/buch/0707a/0707a.htm