Mark Buchanan:
Warum die Reichen reicher werden und Ihr Nachbar so aussieht wie Sie. Neue Erkenntnisse aus der Sozialphysik

ISBN: 3593384566
Erscheinungsjahr: 2008
Campus Verlag
Das soziale Atom
        


 
ass Neurowissenschaftler die Denkfigur des Homo oeconomicus, des rational handelnden Menschen, zu Grabe tragen, indem sie den freien Willen des Menschen zur Illusion erklären, daran hat man sich schon fast gewöhnt. Es häufen sich die Erkenntnisse aus der Hirnforschung, dass Menschen gar nicht so eigennützig handeln wie bisher angenommen: Nur auf ihr eigenes Wohl bedachte Egoisten werden in der Gruppe eher bestraft. Solche Erkenntnisse stellen das Bild des Homo oeconomicus, der allein auf die Maximierung seines Eigennutzens bedacht ist, auf den Kopf. Dass an dem für alle möglichen Erklärungen bemühten Bild des Homo oeconomicus aber nun auch Physiker rütteln, ist neu.

Sozialphysik nennt sich die neue Disziplin, welche Ideen, Methoden und Modelle aus der Physik zur Erklärung sozialer Phänomene heranzieht. Dabei kommen auch die anderen üblichen Grundannahmen der Ökonomie auf den Prüfstand. Neben der Vorstellung, der Mensch sei ein hundertprozentig rationales Wesen, gehen viele Forscher auch von der Annahme aus, dass der Gesamtcharakter einer Gruppe lediglich das Abbild der Einzelcharaktere sei, aus denen sich diese Gruppe zusammensetzt. Außerdem wird meist vorausgesetzt, dass das Verhalten einer Person das der anderen nicht beeinflusst. All diese Annahmen haben natürlich recht wenig mit der Realität zu tun, dienen aber dazu, Berechnungen möglichst einfach oder überhaupt erst durchführbar zu machen.

Die Erkenntnisse der Sozialphysiker bauen auf einer Analogie auf: Zwar besteht das Meer zur Gänze aus H2O-Molekülen, aber genauso wenig wie man aus der Kenntnis über die einzelnen Moleküle die Entstehung meterhoher Wellen ableiten kann, ist es möglich, durch Ergründung einzelner Menschen Massenphänomenen auf die Spur zu kommen. Entscheidungen Einzelner summieren sich und entwickeln sich zu sozialen Phänomenen, die naturgesetzlichen Mustern folgen.

Der amerikanische Wissenschaftsjournalist und promovierte Physiker Mark Buchanan nutzt die Erkenntnisse der Sozialphysik und geht in seinem Buch mit dem etwas sperrigen Titel Warum die Reichen reicher werden und Ihr Nachbar so aussieht wie Sie den Fragen nach, wie Aufstände entstehen, wodurch sich ein Stau auf der Autobahn bildet, wie sich Gerüchte und Modetrends verbreiten oder Hysterien entstehen. Die traditionelle Ökonomie tut sich schwer mit der Erklärung solcher Massenphänomene. Die isolierte Betrachtung einzelner Menschen, selbst wenn ihr Verhalten korrekt erfasst und analysiert wird, trägt meist wenig zur Erhellung von Gruppenverhalten bei.

Mark Buchanan betrachtet Menschen als soziale Atome und legt weniger Wert auf die Analyse ihrer Eigenschaften, als vielmehr darauf, zu verstehen, wie sie interagieren und sich organisieren. Experimente fördern zuweilen erstaunliche Ergebnisse zutage: Testpersonen, die verschieden lange Linien miteinander vergleichen sollten, schlossen sich in ihrem Urteil eingeweihten Personen an, die ganz klar falsche Ergebnisse nannten. Machten die Testpersonen den Test allein, lagen sie beim Vergleich der Längen ausnahmslos richtig. Wie passt das zum Bild des selbstbestimmte, rationale Entscheidungen treffenden Menschen? Buchanan schließt daraus, dass alles menschliche Verhalten berechen- und vorhersehbar sei. Unter bestimmten Gruppenbedingungen verhält der Mensch sich als »imitierendes«, »adaptives« und »kooperatives« Atom.

Mark Buchanan gibt spannende Antworten auf spannende Fragen. Wieso passt sich der Mensch an und nach welchen Mustern? Wann kooperieren wir und welches Umfeld ist dafür förderlich? Welche Bedeutung hat Nachahmung für die Evolution und was löst sie aus? Schade nur, dass sich der Autor allzu oft im weitschweifigen Geschichtenerzählen verliert. So ist es zuweilen schwierig, die Aufmerksamkeit zu halten. Trotzdem: Auch wenn der Autor nicht immer bei der Sache bleibt, ist Mark Buchanans Warum die Reichen reicher werden eine interessante Einführung in die Sozialphysik. Das Buch ist leicht zu lesen, an Stellen jedoch zu ausufernd und lässt zuweilen den roten Faden vermissen.  

 

URL: http://www.perspektive-blau.de/buch/0806b/0806b.htm