Home         Autoren         Newsletter         Kontakt         Impressum
Niederrhein 2042: Weder lokal noch global, sondern regional
Wie wird Deutschland die »wirtschaftliche Wende« erreichen? Warum ist es wichtig, in der Globalisierung »regional zu denken«? Was bedeutet der »Türken-Effekt«? Und was hat die asiatische Philosophie mit dem Niederrhein zu tun? Ein fiktives Interview.

        


 
n einer globalisierten Welt wird den einzelnen Wirtschaftsregionen westlicher Industriegesellschaften eine größere Bedeutung zugesprochen. Gesamtgesellschaftliche Konzepte zur Lösung von Problemen durch den Staat scheinen nicht mehr möglich zu sein, weswegen Erwartungen an einen Obrigkeitsstaat enttäuscht werden. Allerdings setzt sich erst allmählich das Bewusstsein von Verantwortlichen durch, dass eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik nur in Zusammenarbeit mit regionalen Akteuren zu erreichen ist.

In einem fiktiven Interview mit dem Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Rainer Mardick wird am Beispiel der Region Niederrhein ein Szenario aufgestellt, wie den künftigen Herausforderungen begegnet werden könnte. Rainer Mardick zeichnet sich durch seine Forschungen über die Wirtschaftsentwicklung Mitteleuropas zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus, insbesondere durch die umfangreiche Aufarbeitung der wirtschaftshistorischen Daten in allen wichtigen Regionen von West- bis Osteuropa hat er sich international einen Namen gemacht.

Herr Mardick, bevor wir über die Wirtschaftsregion Niederrhein zu sprechen kommen, möchte ich mit Ihnen die wirtschaftliche und politische Entwicklung Europas der letzten 50 Jahre Revue passieren lassen? Wie bewerten Sie diesen Zeitraum?

Turbulent, spannend!

Könnten Sie das bitte näher ausführen?

Nun, Europa trat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine Zeit der blühenden Wirtschaft, des allgemeinen Wohlstands und steigender Lebensqualitäten ein. Im Wettrennen mit dem Rest der Welt hat Europa enorme Fortschritte gemacht und seine wirtschaftliche und politische Vormachtstellung ausgebaut. Am Ende desselben Jahrhunderts befanden sich die europäischen Nationalstaaten in einer Krise.

Die Sie als die »ignorierte« Krise bezeichnen.

Genau. Eine Krise war in der Wahrnehmung der Verantwortlichen latent vorhanden. Nur wenige Regierungen reagierten damals darauf. Zum Beispiel ergriffen die Niederlande bereits in den 1980er Jahren Maßnahmen, so dass ihre Wirtschaft in den 1990er Jahren florierte, während die anderen Länder erst allmählich die Krise wahrnahmen.

Warum haben sehr viele Länder damals diese Krise ignoriert? Hatten sie damals nicht wie heute entsprechende Frühwarnsysteme?

Nun, die Regierungen und ihre Institutionen hatten gewiss Frühwarnsysteme, die auch gut funktionierten. Viele meiner Arbeiten bauen auf diesen Daten von damals auf. Die Qualität und Zuverlässigkeit dieser Daten und des Berichtwesens waren enorm hoch, was meine Arbeit übrigens sehr erleichterte.

Jedoch scheiterte die Frühwarnung am politischen System und seinen Akteuren. Schauen Sie: Das Problem lag in der - nennen wir es - Übersetzung einer Wirtschaftskrise in steuerungspolitische Maßnahmen. Denn diese hätten damals vielleicht schmerzhafte Konsequenzen für die Wähler bedeutet. Nur wenige Regierungen brachten den Mut auf, die notwendigen Maßnahmen konsequent durchzusetzen - und ihre Wiederwahl zu riskieren. Während einige Länder wie die Niederlande, Großbritannien oder die USA bereits in den 1980er Jahren tief greifend die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt reformierten, versuchten andere wiederum die Krise auszusitzen oder mit halbherzigen Maßnahmen der Krise in den folgenden Jahren zu begegnen.

Was aber ist passiert, dass es uns heute besser geht?

In der Tat passierte viel: Bis 2008, 2015 hatten einige Regierungen versucht, die sich zuspitzende Krise auszusitzen. Die zumutbaren Maßnahmen wurden vom Volk jedoch als unzumutbar empfunden. Die Menschen haben angefangen für ihre Lebensqualität zu streiten...

...Revolution!?!

Abgesehen von Italien waren die Ereignisse in den anderen Ländern nicht so dramatisch. In Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien gingen die Menschen durchaus auf die Straße und protestierten. Immer mehr Menschen verarmten mitten in Europa und verloren ihre Arbeit; die Sozialsicherungssysteme, die bis dahin als Vorbild für alle Entwicklungsländer galten, drohten zusammenzubrechen. Die Regierung in Italien hatte die massive Umverteilung vom reichen Norden in den armen Süden des Landes durchzusetzen versucht, um das Schlimmste zu vermeiden. Doch die allgemeine politische und wirtschaftliche Lage stärkte die Ultranationalisten in Norditalien, die schon seit Jahren die Abspaltung Norditaliens vom Süden forderten. Die letzte Maßnahme der Regierung in Rom kam ihnen gelegen, um ihre Forderung wahr zu machen.

Ihr Schüler Albert Sturm verbindet das Jahr 2018 mit der wirtschaftlichen Wende in Deutschland und begründet diese Wende mit dem so genannten »Türken-Effekt«.

Mein begabter Schüler und geschätzter Kollege Albert Sturm hat einen Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum, das ab 2018 eintrat, und dem umfangreichen Programm zur Integration von Migranten von 2008 gefunden. Bis dahin hatten die deutschen Regierungen die Integration dieser Minderheit weitgehend vernachlässigt: Die einen, weil sie noch die Hoffnung hegten, dass die Türken in ihr Heimatland zurückkehren, die anderen, weil sie Integrationsprogramme als Einmischung in die Kultur und Lebenswelt dieser Menschen empfanden.

Albert Sturm fand nun heraus, dass in dieser Minderheit die Bereitschaft, Unternehmen zu gründen vergleichsweise hoch war. Ihm fiel nur auf, dass vor 2018 die tatsächlichen Unternehmensgründungen deutlich geringer waren als nach 2018. Er ging dieser Spur nach und fand heraus, dass die meisten Nicht-Unternehmensgründungen auf die vernachlässigte Integration dieser Menschen zurückgingen. Konkret bedeutete dies eine schlechte schulische Ausbildung, eine sehr geringe Zahl an Akademikern, mangelnde Partizipationsmöglichkeiten, fehlende Sprachkenntnisse usw. Es gab eine Kluft zwischen dem Wunsch, ein Unternehmen zu gründen und dem Wissen über Finanzierungs-, Förderungs-, Weiterbildungsmöglichkeiten usw. usf., um dies erfolgreich zu tun und zu bewerkstelligen. Erfolgreiche türkische Unternehmer in Deutschland vor 2008 zeichneten sich dadurch aus, dass sie vor allem wegen ihrer akademischen Ausbildung bestens integriert waren.

Schloss das Integrationsprogramm von 2008 diese Kluft und legte damit das Fundament für die wirtschaftliche Wende!?

Das meint zumindest Albert Sturm.

Teilen Sie etwa nicht seine Meinung?

Nun wissen Sie, ich finde es überzogen zu behaupten, dass eine einzige Bevölkerungsgruppe Deutschland gerettet hätte. Dies lässt sich bestimmt in der Populärwissenschaft gut verkaufen. Ich finde, dass zusätzliche Faktoren zu berücksichtigen sind, wenn man die wirtschaftliche Wende von 2018 verstehen will.

Die wären?

Lassen sie mich aber vorher eines klarstellen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war die mangelnde Bereitschaft der Menschen, ein Unternehmen zu gründen tatsächlich ein Problem. Denn gerade Unternehmensgründungen wurden als Innovationsmotoren einer Volkswirtschaft angesehen, die zudem Arbeitsplätze schufen. Die Deutsch-Türken haben damals vor diesem Hintergrund einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. Außerdem profitierte die Wissenschaft von dieser Integration, aber das ist ein anderes Thema.

Es sind aber weitere Entwicklungen zu berücksichtigen, die ich als die Phase der reengineering of the cognitive set nenne.

Das hört sich aber sehr populärwissenschaftlich an...

(lacht) Nun ja... auch ein Wissenschaftler muss sich gut verkaufen können.

Aber! Damit meine ich die Verschiebung, Veränderung, Ergänzung und das Ersetzen eines Leitbildes bzw. einer Wertvorstellung, die ihre Manifestation im Verhalten eines Menschen findet, durch ein anderes Leitbild.

Mein Kollege Damir Yaldiz charakterisiert den Menschen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts als »bürokratisierten Bürger« oder an einer anderen Stelle seines Buches als »durchrationalisierten Bürger«. Diesem mangelte es an der Fähigkeit systemischen Denkens. Damir Yaldiz unterstellt diesem Menschentyp ein verzerrtes Verständnis vom rationalen Denken und Handeln, der nur dann handelte, wenn er einen persönlichen Nutzen hatte. Dabei ignorierte er den möglichen Nutzwert seiner Handlung für die Allgemeinheit.

Wodurch wurde Ihrer Meinung nach dieser reengineering-Prozess der cognitive set ausgelöst?

Meiner Ansicht nach durch die Einflüsse der asiatischen Philosophie, die durch die damaligen Managementmethoden nach Europa schwappten. Darüber hinaus spielte die organizational learning-Bewegung in der Scholar Community eine wichtige Rolle, die zunehmend in die Unternehmensrealität und den Managementalltag eindrang und den cognitive set der Verantwortlichen restrukturierte.

An welchem Beispiel können Sie ihre Ausführungen belegen?

An meinem Lieblings-Beispiel: der Wirtschaftsregion Niederrhein. Aber bevor ich hierauf näher eingehe, noch eine abschließende Bemerkung zu meinen Ausführungen vorhin: Dieser Ansatz, den ich vorgestellt habe, ist keineswegs neu. Max Weber beispielsweise hat das Aufkommen der Industrialisierung mit der religiösen Weltanschauung der Calvinisten begründet. Ich empfehle Ihnen übrigens sein Buch »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«.

Ich werde es mir merken!

Nun aber zu meinem Beispiel:

In der Geschichte der Wirtschaftsregion Niederrhein finden wir sämtliche Aspekte unserer bisherigen Unterhaltung und noch weitere wieder.

Während der turbulenten Zeit des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts war der Niederrhein eine unbedeutende wirtschaftliche und politische Region zwischen dem Rheinland und dem Ruhrgebiet. Aber gerade diese Bedeutungslosigkeit schaffte den Entscheidungsträgern und Gestaltern in der Region den notwendigen Freiraum, um abseits der turbulenten politischen und wirtschaftlichen Ereignisse dieser Zeit die großen Linien zur Zukunft der Region zu zeichnen und umzusetzen. Dies gelang nur deswegen, weil die wichtigsten Akteure, also die Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Gewerkschaften, sich darauf verständigen konnten.

Und wie gelang den Akteuren dieser große Wurf ohne sich zu blockieren oder zu sabotieren? Sogar heute fällt es den Interessensvertretern schwer, Kompromisse einzugehen oder schnelle Lösungen zu finden.

Ja, diese Frage stelle ich mir auch. Ich vermute, dass es eine akteurspezifische Initiative war, die nach und nach weitere Kreise zog. Ich sichte gerade die Protokolle der Rats- und Gemeindesitzung aller Städte und Gemeinden im Niederrhein nach Hinweisen für meine Annahme und führe Interviews mit Beteiligten von damals, die noch leben.

Jedenfalls bewiesen die Verantwortlichen damals eine enorme Fähigkeit, systemisch und ganzheitlich zu denken. Zuerst beauftragten sie eine Unternehmensberatung, eine umfassende Standortanalyse durchzuführen, um zu wissen, woraus sich die unternehmerischen Aktivitäten in der Region zusammensetzten. Das Ergebnis war, dass die dortige Lebensmittelindustrie eine dominierende Rolle spielte bzw. das größte Zukunftspotenzial aufwies. Schließlich gaben die Beteiligten einem Zukunftsforschungsinstitut den Auftrag, auf den vorangegangenen Ergebnissen der Unternehmensberatung aufzubauen und Entwicklungsszenarien für die Lebensmittelindustrie zu entwickeln. Dokumente belegen, dass nun die betroffenen Unternehmen hinzugezogen wurden.

Gemeinsam haben Sie dann Implikationsmöglichkeiten ihrer Ergebnisse erörtert.

Ja, so ungefähr. Durch das Zusammenkommen aller Unternehmen fanden sie erst heraus, dass die dort ansässigen Lebensmittelindustrie-Unternehmen ähnliche Expansionsstrategien verfolgten, aber auch aus ähnlichen Gründen daran scheiterten.

Und weswegen konnten Sie ihre Strategien nicht umsetzen?

Eine unzureichende Verkehrsinfrastruktur für den Austausch von Waren und Gütern sowie eine unzureichende Kommunikationsinfrastruktur für den Austausch von Dienstleistungen und Informationen war hierfür maßgeblich. Darüber hinaus beklagte man den Mangel an qualifizierten Fach- und Arbeitskräften. Zusammen mit den Gewerkschaften, hiesigen Schulen und der Hochschule Niederrhein wurden dann entsprechende Ausbildungsprogramme ins Leben gerufen.

Bei zunehmend sichtbarem Erfolg wurde das Vertrauen zwischen den Akteuren immer größer und die Koordination verlief spürbar reibungsloser, so dass sie sich zunehmend an größere Projekte heranwagten. Die Lebensmittelindustrie entschied sich aufgrund der vorangegangenen positiven Erfahrungen ihre Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten in die Region zu verlagern. Aber bevor sie das tat, investierte sie in die Hochschule Niederrhein. Dort wurden mehrere Forschungsinstitute zur Lebensmitteltechnologie, zur technologischen Weiterentwicklung von nachhaltigen Anbaumethoden und ein weiteres Institut zur Sicherung der Qualität gentechnisch modifizierter Lebensmittel eingerichtet.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Wirtschaftsregion Niederrhein nun in der Mitte des 21. Jahrhunderts über das modernste und erfolgreichste Produktions- und Forschungsnetzwerk zur Herstellung von Lebensmitteln in der Welt verfügt. In Anlehnung an das Silicon Valley im 20. Jahrhundert in den USA, ist der Niederrhein heute in der Welt bekannt als...

...»Green Valley«. Was waren die Folgen für die umliegenden Regionen?

Ein Vorbild! Die umliegenden Regionen nahmen den Niederrhein als Vorbild. Sie versuchten ähnliche Wege dort einzuschlagen - mehr oder weniger erfolgreich.

Das Beispiel Niederrhein führte vor, dass nicht nur lokal oder global gedacht werden sollte, sondern vor allem regional!

Herr Mardick, wir danken Ihnen für die überaus interessante Unterhaltung!