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Zahlen als Steuerungsinstrument: Eine Methodik für Schönwetter-Kapitäne?
Zahlen lügen nicht. Sagen sie aber stets auch die ganze Wahrheit? Im Unternehmensalltag kommt Zahlen uneingeschränkte Glaubwürdigkeit zu, sie werden für objektiv gehalten und machen Ergebnisse messbar. Die Managementaufgabe besteht jedoch nicht nur in der Beurteilung der Ergebnisse, sondern auch im Auffinden und Beurteilen der Wege zur Zielerreichung.

        


 
eview Meetings zählen zu den häufigsten und beliebtesten Methoden der Unternehmensführung, um an das Top-Management zu berichten. Meist werden dazu vorgegebene Berichtsschemata in Form von Power Point Templates eingesetzt und die Meetings strotzen in der Fülle der Grafiken und Zahlenwerke. Da Zahlen offenbar nicht trügen, werden diese schriftlich fixiert, während die Ursachen und Hintergründe, welche zu diesen Ergebnissen führten mündlich vorgetragen werden, sozusagen als Erklärung für die Ergebnisse.

Wie stark können Sie darauf vertrauen, dass diese Erklärungen der Wahrheit entsprechen und wie wichtig ist die Wahrhaftigkeit solcher Erklärungen für den Unternehmenssteuerungsprozess?

Risiken des Erinnerns
Wenden wir uns zunächst drei Beispielen zu, die nicht der Unternehmensführung entnommen sind.

:: Beispiel 1:
Wall Street Journal Europe1 berichtet am 22. März 2004 über das, was George W. Bush am 11. September 2001 getan hat bzw. sagte getan zu haben. Weil es hier Ungereimtheiten gab, bildete sich am 27. November 2002 eine zehnköpfige Kommission mit weiteren 80 Mitarbeitern (Budget 15 Millionen Dollar), deren Aufgabe darin bestand, 100 Personen zu befragen und 2 Millionen Seiten an Dokumenten zu durchkämmen, um herauszufinden, was am 11. September 2001 wirklich geschah.

Wie Sie sich erinnern, hielt sich Präsident Bush im Klassenzimmer einer Schule auf, als ihn die Nachricht des Terroranschlages erreichte. Fragte man den Präsidenten, so sagte er mehrmals öffentlich, dass er gleich nach den Anschlägen das Militär in Alarm versetzt hat. Am 4. Dezember 2001 hat Bush in einer Rede in Florida (und übrigens mehrmals später wiederholt) gesagt: »Ich saß außerhalb des Klassenzimmers und wartete darauf, hineinzugehen, und da sah ich, wie ein Flugzeug in den Turm einschlug – der Fernseher lief offensichtlich. Und da ich früher selbst geflogen bin, sagte ich: Nun, da ist ja wahrhaftig ein schlechter Pilot am Werk.«

Das Problem besteht nun in zwei Punkten. Erstens teilt der Schuldirektor mit, dass der Fernseher vor dem Klassenraum gar nicht an die Steckdose angeschlossen war und zweitens war im Fernsehen gar nicht live zu sehen, wie der erste Jet in einen Turm des World Trade Centers einschlug. Erst am Abend konnten Aufnahmen von Privatpersonen zu diesem Vorkommnis gezeigt werden. Der Präsident konnte also keinesfalls gesehen haben, wie der erste Jet in den Nordturm einschlug.

:: Beispiel 2:
In einem ersten Experiment sehen 107 Studenten (alle ehemalige Besucher von Disneyland) eine Disney-Anzeige, die auf eine Begebenheit in der Kindheit der Studenten bezogen war und das Treffen von Mickey Mouse in Disneyland mit Handschlag zum Inhalt hatte. Tatsächlich fand dieser Handschlag nie statt. Es wird Sie überraschen, aber diese Studentengruppe war überzeugter, der Handschlag habe tatsächlich stattgefunden, als eine entsprechende Kontrollgruppe ohne Präsentation der Anzeige.

In einem weiteren Experiment wurde 167 Probanden ebenfalls eine solche Disney-Anzeige präsentiert, allerdings wurden Ariel, die kleine Meerjungfrau oder Bugs Bunny dargestellt. Beides ist unmöglich, da Ariel zur Zeit der Kindheit der Probanden noch nicht erfunden war und Bugs Bunny zur Disney Konkurrenz Warner Bros. gehört. 16 Prozent der Probanden gaben an, dass sie als Kind Bugs Bunny in Disneyland die Hand geschüttelt haben und 7 Prozent konnten sich erinnern, dies auch mit Ariel getan zu haben.

Grinley2 steigerte den Effekt, indem die Versuchspersonen den Bildern mehrfach ausgesetzt wurden. Nun glaubten 36 Prozent der Probanden Bugs Bunny in Disneyland getroffen zu haben. Befragte man die Probenden nach Details der Begegnung und ließ diese ausführlich schildern, meinten 62 Prozent, sie hätten die Hand geschüttelt und 46 Prozent erinnerten sich daran, Bugs Bunny umarmt zu haben. (Alles veröffentlicht in Science and Technology 2002).

:: Beispiel 3:
Loftus untersucht die Tücken des Gedächtnisses mit den Methoden der experimentellen Psychologie. In einer bis heute viel zitierten Studie wurden 45 Studenten in unterschiedlichen Gruppen insgesamt sieben Filmausschnitte von Autounfällen vorgeführt. Direkt danach sollten die Studenten den Unfall beschreiben. Hierzu mussten Sie einige Fragen beantworten, wie z.B. »Wie schnell fuhren die Autos als sie zusammenstießen?«

Bei jeweils neun der Versuchspersonen wurde die Frage unter Verwendung eines anderen Verbs (smashed, collided, bumbed, hit, contacted) gestellt. Die dann angegebene Geschwindigkeit hing von dem verwendeten Verb ab. Bei »smashed« wurde die Geschwindigkeit höher angegeben als bei »contacted«.

Um sicher zu stellen, dass die Erinnerungsinhalte der Probanden tatsächlich durch die Befrager beeinflusst wurden, stellte man an dieselben Personen eine Woche später die weitere Frage, ob Glasscherben gesehen wurden. Tatsächlich waren jedoch in den Filmen keine Glasscherben. Das Ergebnis war eindeutig. 16 von 50 Versuchspersonen, die bei der ersten Befragungen mit dem Verb »smashed« konfrontiert waren, erinnerten sich jetzt auch an (nie da gewesene) Glasscherben.

Erinnern als erneutes Formen
All diese Faktoren zeigen, unser Erinnerungsvermögen formt sich jedes Mal, wenn wir Erinnerungen abrufen neu. Manfred Spitzer3 erklärt dies damit, dass eben Erinnerungen nicht »Zettel in einem Kasten« sind, sondern bei jedem Abruf mit dem jeweiligen aktuellen Kontext verbunden werden. Mehrmaliges Abrufen stabilisiert nach und nach die Erinnerung, reichert sie aber trotzdem jedes Mal neu an, da sie jedes Mal erneut aufgebaut, statt »abgerufen« wird. Es ist also nicht verwunderlich, wenn viele Führungskräfte nur noch Zahlen in Ihren Reviews zulassen, da sie (intuitiv richtig) eine Verfälschung der Erinnerungen bei Prosa-Reviews vermuten.

Ziele werden nur über Wege erreicht
Trotzdem bleibt ein wichtiges ungelöstes Problem. Zahlenreports zeigen lediglich den Ist-Zustand zu einem beliebig gewählten Zeitpunkt. Dieser Ist-Zustand kann sehr wohl mit einem Soll verglichen werden und damit die Differenz sichtbar gemacht werden.

Man misst damit aber ausschließlich Ergebnisse und nicht die Wege zu diesen Ergebnissen. Die inhaltliche Leistung jeglichen Managements besteht aber nicht in der Zielerreichung (Ergebnis der Leistung), also der Übereinstimmung von Soll und Ist, sondern in der Konzeption und Realisierung des Weges zu diesem Ergebnis. Wer diese verwechselt, der verwechselt auch das Rollenverständnis zwischen Eigentümer und Mitarbeiter eines Unternehmens. Eigentümer formulieren Gewinnerwartungen ohne genau zu bestimmen, wie man diese Gewinne realisiert. Leitungskräfte und Mitarbeiter beschäftigen sich sehr wohl mit den Wegen, die geeignet sein könnten, diese Ziele zu erreichen.

Genau darin, den richtigen Weg zu finden und gehen zu können, liegt die Leistung, welche Aktionäre einkaufen und durch Entlohnung an Mitarbeiter anerkennen. Management Reviews, welche ausschließlich Zahlen reporten sind eigentlich Eigentümer-Reports, wie z.B. Hauptversammlungen. Der Name Management Review soll dagegen einen anderen Vorgang bezeichnen, nämlich den Bericht über das Vorgehen, wie man die gesetzten Ziele erreichen möchte und erreicht hat.

Risiken der Fabulation
Holt man diesen Bericht mündlich ein, weil nur die Ergebniszahlen dokumentiert sind, läuft man Gefahr, dass dieser mündliche Bericht, der ja aus Erinnerungen des vergangenen Vorgehens besteht, genau zum Zeitpunkt der Abgabe »frisch erstellt« wird. So wie George Bush tatsächlich glaubt, im Fernsehen einen Live-Bericht zum Einschlag des ersten Jets gesehen zu haben, so wie viele Bugs Bunny in Disneyland umarmten und andere Glasscherben bei einem Unfall gesehen haben, die es nie gab, so werden Ihre Mitarbeiter einen Bericht über den bisherigen Ablauf des Vorgehens ganzer Unternehmensbereiche abgeben, die vermutlich nicht der Wahrheit entsprechen, die Berichterstatter jedoch steif und fest behaupten, es sei so gewesen.

Je mehr Sie in diesen Berichten Details abfragen, weil Sie immer tiefer in die Sache eindringen wollen, desto mehr wird Ihnen wohl eine Fabulation aufgetischt werden. Dies mit inbrünstiger Überzeugung der Sprecher (die sich an alles sehr genau erinnern können.). Ich kann mich sehr wohl daran erinnern, vor Jahren am New Yorker Flughafen einen Bus nach Manhattan versäumt zu haben, weil meine Schwiegermutter noch Briefmarken kaufte. Inzwischen habe ich diesen Vorfall mehrfach erzählt und kann ihn zunehmend mit Details anreichern. Meine Frau behauptet, dies sei alles gar nicht so gewesen und ich tue meiner Schwiegermutter unrecht.

Nachteil der Schönwetter-Kapitäne
Nun könnte man einwenden, es sei doch nicht so schlimm, wenn in den Reviews über den »Entstehungsvorgang« einer Zielerreichung nicht wahrheitsgemäß berichtet wird, denn am Ende zähle nur das Ergebnis und dieses ist sicher wahrhaftig und kann nicht getürkt werden. Stimmt, wenn das Ziel erreicht wurde, interessiert es wenig Menschen, wie es denn nun dazu gekommen sei. Was jedoch, wenn Ziele nachhaltig verfehlt werden? Dann ist wohl der gewählte Weg zu diesen Zielen untauglich.

Fachleute unter meinen Lesern wissen, es ist ein teleologischer4 Fehler entstanden, diesen gilt es zu beenden und in ein teleologisch brauchbares Vorgehen zu verwandeln. Dazu muss man allerdings das Vorgehen selbst sehr genau untersuchen. Wird dieses Vorgehen aus der Erinnerung abgerufen, entsteht das oben beschriebene Problem.

Kontierung schafft Vorteil
Die Profis der Unternehmensführung haben daher immer darauf Wert gelegt, dass jegliches Vorgehen im Unternehmen sauber und vor allem zeitnah kontiert wird. Unter Kontierung versteht man das Niederschreiben einer konkreten Tätigkeit mit Angabe von Inhalt, Zeit und Termin. Es macht natürlich keinen Sinn, nur diese Kontierungen zu betrachten, sondern dazu gehört ein vorher aufgestellter Plan, der laufend mit diesen Kontierungen verglichen wird. Profis nennen dies »gegen den Plan messen«.

Diese Messungen können zwei Erkenntnisse hervorbringen; entweder wurde nicht getan, was im Plan steht, dann steht man vor einem Durchsetzungsproblem; oder es wurde genau das getan, aber das Ziel verfehlt, dann steht man vor einem Konzeptionsproblem. Profis führen dazu einen definierten Stichtag ein, an dem Pläne »scharf geschaltet« werden, weil vor diesem Stichtag eine eingehende Evaluierung stattgefunden hat, ob das geplante Vorgehen teleologisch sinnvoll ist. Gleichzeitig wird in dieser Planungsphase Verantwortung übernommen und die notwendige Ownership für nachfolgende Realisierung geschaffen.

Mit reinen Zahlen-Reviews können Sie diese komplexen Planungs-, Monitoring, und Ownershipvorgänge nicht überblicken oder gar beeinflussen. Aber genau dazu haben Sie ja eine Führungsspanne 1 zu 7 oder 1 zu 10 in Ihrem Unternehmen, damit Planungen teleologisch geprüft und freigegeben werden und im Nachgang Kontierung und Plan in Relation gesetzt werden. Dies schafft einen deutlichen Vorteil gegenüber den Visionären, die lediglich Ziele vergeben und Ergebnisse messen.

Die Frage, wer kontieren soll, ist einfach zu beantworten: Jeder, dem im Plan eine Aufgabe zugewiesen ist. Die Granularität des Plans hängt vom Schwierigkeitsgrad der Aufgabe und den bereits eingeführten Automatismen ab. Wer hierzu mehr Informationen benötigt kann beim EFQM-Modell, bei kontinuierlichen Verbesserungsprozessen oder in Zertifizierungsmodellen Anleihen nehmen.

Häufig führt die Vermutung, die Mitarbeiter seien auf niedrigem Niveau ausgebildet zu einer mehr detaillierten Planung und einer stringenteren Kontierung. Wird dagegen angenommen, der Mitarbeiter verfüge über hohes Ausbildungsniveau, verzichtet man auf Plan und Kontierung. Dies führt zu dem scheinbar paradoxen Ergebnis, dass häufig Unternehmen mit »niedrigen« Tätigkeiten höhere Profitergebnisse erzielen als »akademisch« besetzte Unternehmensbereiche. Sie sollten erkennen, der Grad des Ausbildungsniveaus verringert nicht die Wahrheits-Risiken, die sich im Erinnern verbergen.

Die drei Beispiele am Anfang dieses Artikels sollen eindringlich daran erinnern, dass es für zeitnahe Kontierungen keinen Ersatz gibt. Jegliches spätere Erinnern ist eine response bias und wird von der aktuellen Fragestellung, eventuell vom autoritären Verhalten des Befragers und vielen anderen Faktoren beeinflusst. Erinnern ist eben nicht abrufen, sondern neu rekonstruieren.  

 

1 Paltrow, SJ.: Inconsistencies cloud official U.S. accounts of Sept. 11 Responses. Panel focuses on who issued orders after initial attacks, and when. Bush’s seven minutes in class. The Wall Street Journal Europe 2004; 22. März 2004; 1, A12.
2 Foftus, EF.: Memory Faults and Fixes. Science and Technology 2002
3 Spitzer, Manfred: Falsche Erinnerungen. Frontalhirn an Mandelkern, 2005
4 Teleologie: von telos (griech.), das Ziel, also zielführende Maßnahmen.