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Renaissance der Weisheit: Orientierung im Leben (Teil I)
Weisheit scheint ausgedient zu haben; altmodisch, wie aus einer anderen Welt klingt dieser Begriff. Stattdessen dreht sich alles um Informationswissen. Was aber kann Weisheit heute noch leisten? Sie schafft Orientierung. Und ist somit in einer Welt, die immer unübersichtlicher wird durchaus zeitgemäß.

        


 
as ist Weisheit? Zunächst sollten wir unterscheiden. Es gibt verschiedene Arten des Wissens. Da ist zunächst einmal das Informations- oder Sachwissen: Wie groß ist die Erde? Wie viel ist der Euro wert? Welche Kriterien müssen bei der Delegation einer Aufgabe eingehalten werden? Welches Datum haben wir heute? Wie lange herrschten die Römer? All das ist Informationswissen. Daneben gibt es das Erfahrungswissen: Wenn ich meinen Finger an eine Flamme halte, dann verbrenne ich mich. Zum Dritten kennen wir das Gewohnheitswissen: Ich weiß, wie man ein Butterbrot schmiert, ein Auto fährt, einen Wasserhahn aufdreht und ähnliches. Und dann gibt es noch das Lebenswissen – und genau dort ist Weisheit angesiedelt. Ein weiser Rat hat also nicht zwingend etwas mit Gewohnheiten, Erfahrungen oder Informationsständen zu tun, sondern mit dem Wissen um das Leben. So kann ein fünfjähriges Kind durchaus weiser sein als ein 60-Jähriger. Weisheit hat nicht zwingend etwas mit dem Alter zu tun.

Was aber genau ist Lebenswissen? Das war zunächst eine Sache der Religion. Weisheit galt von alters her als eine göttliche Eigenschaft. Im alten Ägypten war sie zum Beispiel einem einzigen Gott, dem Mondgott Thot, zugeordnet. Im Mittelalter begriff man Weisheit als Gipfel aller menschlichen Verstandes- und Erkenntnistätigkeit, den ein guter Mensch anstreben kann. Schon damals wurde Klugheit von Weisheit unterschieden. Klugheit verstand man als eine dem Verstand zugeordnete Fähigkeit, Weisheit hingegen war ausgerichtet auf die Handlungsweisen eines Menschen, in denen es um das Verstehen des Ursprungs, des Sinns und des Ziels dieser Welt ging. Es ging um Wissen, das sich mit dem menschlichen Leben und die letzten Dinge wie Tod, Himmel und Hölle beschäftigte. Im Gegensatz zur Klugheit war Weisheit damals also sehr eng mit der Religiosität der Menschen verbunden.

Heute scheint die Weisheit aus der Mode gekommen zu sein. Zu sehr hat sich die praktische Vernunft in den Vordergrund geschoben. Heute geht es um Effizienz und Geschwindigkeit. Da hat ein antiquiert erscheinendes Konstrukt wie Weisheit keinen Platz, so scheint es. Doch deutet sich eine Renaissance dieses Begriffes an. Die heutige Zeit versucht, sich wieder der Weisheit anzunähern. Vor allem aus der Wissenschaft kamen in jüngster Zeit neue Impulse, sich mit diesem Begriff auseinanderzusetzen. Um Weisheit zu definieren, haben sich Wissenschaftler zunächst bei der Intelligenzforschung bedient. Intelligent ist der Mensch, der Regelmäßigkeiten erkennen, Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden und sich konzentrieren kann.

Wissenschaftler haben sich darauf verständigt, dass Weisheit der Gipfel menschlicher Verstandestätigkeit ist. Es ist ein geordnetes Lebenswissen und unterscheidet sich damit von Informations-, Sach-, Gewohnheits- und Erfahrungswissen. Weisheit ist Expertenwissen auf dem Gebiet der fundamentalen Pragmatik des tatsächlich realisierten Lebens. Es befähigt zu ausgewogenen Urteilen und fundierten Ratschlägen bei schwierigen Lebenssituationen und rechnet mit einem hohen Grad an Ungewissheit.

So wird auch klar, dass Weisheit heute keine große Rolle mehr spielt. Im Vordergrund steht vor allem das Informationswissen. Doch wenn wir das Menschheitswissen aufhören zu kultivieren und das Informationswissen die Oberhand gewinnt, dann besteht die Gefahr, dass wir Menschen funktionalisieren, sie nur noch als Funktionsträger wahrnehmen.

Weisheit kann man nicht besitzen
Das Schöne an der Weisheit ist, dass sie nicht besessen werden kann. Weisheit geschieht, ähnlich wie Liebe. Man kann sie nicht besitzen. So kann ich das Rauschen des Waldes nicht besitzen, das Murmeln des Wassers nicht besitzen, und doch geschieht es. Schon Sokrates wusste darum. Er war so weise zu wissen, dass er nichts weiß. Er wusste, dass er Wahrheit nicht besitzen kann. Und er wusste, dass er auch nicht wissen kann, ob das, was er weiß, wahr ist. Darin unterschied er sich grundsätzlich von seinen Richtern, die meinten, im Besitz von Wahrheit zu sein.

Doch bereits Sokrates’ Schüler Platon war der Überzeugung, dass man Weisheit durchsetzen muss, am besten durch einen weisen Herrscher. Und damit stellte er die Weisheit auf den Kopf, denn wer Weisheit ausübt, ist ein Mensch, nicht ein Herrscher. Den weisen Herrscher kann es nicht geben, weil in der Weisheit auch immer ihr Gegenteil steckt, die Unweisheit. Das eine bedingt das andere. Sobald ich herrsche, besteht die Gefahr, dass ich dogmatisiere, mich durchsetze. Damit setze ich etwas absolut. Und mit dieser Setzung verkehrt sich Weisheit in ihr Gegenteil. Weisheit setzt voraus, dass man in der Lage ist, zu relativieren. Der Anspruch der Absolutheit verkennt, dass ein Mensch nicht frei sein kann von Irrtümern und Täuschungen. Das aber entgeht dem Dogmatiker, weil er ein anderes Urteil, eine andere Erkenntnis nicht gelten lässt. Und damit wird er unweise.

Weisheit ist der Gegensatz von Unweisheit
Wieso aber ist Weisheit Expertenwissen? Man könnte dieser Definition eine gewisse Arroganz unterstellen. Dem ist aber nicht so. Denn ein Experte ist ein Mensch, der über eine besondere Form von Wissen verfügt, die man nur qualitativ, nicht quantitativ verstehen kann. Ein weiser Mensch unterscheidet sich von einem unweisen Menschen eben qualitativ. Er ist ein Experte, da er über Einsichten in die Grundfragen des Lebens verfügt, die keineswegs allen Menschen zugänglich sind:

:: Ein weiser Mensch versucht, Irrtümer und Täuschungen zu minimieren. Ein unweiser Mensch schließt als Dogmatiker Irrtümer und Täuschungen aus.

:: Alles, was uns sinnvoll, nützlich und brauchbar erscheint, ist immer auch unnütz, unbrauchbar, unsinnig. Immer besteht die Gefahr, dass sich das Gegenteil realisiert. Ein Mensch, der etwas unter allen Umständen für nützlich, brauchbar und sinnvoll erachtet, ist unweise.

:: Ein weiser Mensch stellt Selbstverständlichkeiten in Frage. Nur indem sich die Dinge verändern, bleiben sie gut, bleibt das Wahre wahr, das Nützliche nützlich, das Kluge klug. Ein Mensch, der im Käfig seiner Wahrheiten thront und seine Selbstverständlichkeiten stets für richtig und sinnvoll erachtet, ist qualitativ unweise. Der weise Mensch weiß, dass seine Selbstverständlichkeiten nur für ihn selbst verpflichtend sind. Jeder Mensch hat für ihn das Recht, sich an andere Selbstverständlichkeiten zu binden, aber niemand hat das Recht, diese Verbindlichkeiten auf andere Menschen zu übertragen, für sie verpflichtend zu machen.

:: Ein weiser Mensch kann differenzieren. Er ist in der Lage, komplexe Sachverhalte möglichst realistisch zu reduzieren. Aber er negiert sie nicht. Er ist in der Lage, komplexe Sachverhalte so weit zu vereinfachen, dass sie zu differenzierten Aussagen führen. Der unweise Mensch hingegen verliert sich in komplexen Sachverhalten.

:: Der weise Mensch denkt in Alternativen. Es gibt für ihn zu jeder Vorgehensweise auch noch eine andere Möglichkeit. Der unweise Mensch dagegen denkt nicht in Alternativen, sondern in Gegensätzen. Ihm ist es wichtig, etwas zu widerlegen. In vielen Unternehmen findet sich diese Denkpraxis. Die Mitarbeiter wollen sich gegenseitig widerlegen, nicht herausfinden, was in dieser oder jener Sache weiterführt.

:: Ein weiser Mensch versucht, sich auf die Wertvorstellungen, Erwartungen, Interessen und Bedürfnisse anderer Menschen einzustellen, der unweise Mensch versucht das nicht. Der unweise Mensch überträgt seine Werte, Erwartungen, Bedürfnisse und Interessen auf andere. So macht er sie für andere verpflichtend.

Wissen um die Gegebenheiten des Lebens
Man kann zusammenfassen: Weisheit umfasst zweierlei: erstens das Wissen um die Gegebenheiten des Lebens und um die Strategien, diese Erkenntnisse im täglichen Leben praktisch anzuwenden. Zweitens Wissen um die Relativität nahezu aller Wertsetzungen – denn alle Entscheidungen sind Entscheidungen unter Unsicherheit, können also niemals irrtumsfrei und täuschungssicher sein.

Weisheit regelt also die Lebensplanung eines Menschen, seine Art, das Leben zu bewältigen. Sie hilft ihm, seinen Alltag bestmöglich meistern zu können. Sie gibt Orientierung. Und eben dies wird in einer Welt, die immer unübersichtlicher zu werden scheint, immer wichtiger. 

 

Dieser Artikel ist erstmals auf changeX erschienen.

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