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Renaissance der Persönlichkeit. Ein Märchen über das Führen
Die Industrialisierung verbannte Individualität und Persönlichkeit aus der Arbeitswelt. Der Mensch galt als Störenfried im System, denn was nicht objektiv messbar ist, galt sodann als Risikofaktor. Neuerdings bröckelt das Diktat der Messbarkeits-Fanatiker: der Mensch rückt als mündiger und aufgeklärter Mitarbeiter oder Kunde in den Mittelpunkt der Betrachtung. Das kommt auch den Unternehmen zugute, denn Mitarbeiter mit Persönlichkeit leisten mehr und das merken auch die Kunden.

        


 
s waren einmal zwei reiche Landbesitzer, die kauften sich bei einer Auktion jeder vier junge, rassige Vollblut-Pferde, die es jetzt zu führen galt. Der eine spannte sie vor eine flotte Sportkutsche, klopfte ihnen liebevoll den Hals, flüsterte ihnen schwärmerisch etwas von einer saftigen grünen Wiese hinter den beiden Hügeln ins Ohr, und ab ging die Post!

Mit leichtem Zügel gab er seine Steuerimpulse, deutlich, aber ganz sanft. Bei jeder ruckartigen Bewegung hätten ja die Pferde gebockt und die Kutsche aus der Kurve geworfen. Ihm passierte so etwas nicht. Er verstand es zu führen, weil er die natürlichen Fähigkeiten der Pferde nutzte, weil er mit klaren Kommandos die Richtung bestimmte und weil er sehr achtsam mit seinen wertvollen Pferden umging. Auch für die Dorfbewohner war dieses kraftvolle Gespann eine Augenweide, wenn es mit wehenden Mähnen durch die Landschaft brauste. Es schien, als hätten alle ihre Freude, sogar die Pferde.

Der zweite Gutsherr hatte eine etwas andere Vorstellung vom Führen. Er nahm jedes Pferd an die Kandare, stellte sich vor die vier Pferde, zog die vier Zügel über seine Schulter und hielt sie mit beiden Händen fest. Dann begann er mit aller Kraft zu führen. Schritt für Schritt kämpfte er sich vorwärts, mit den vier Pferden hinter sich, die wild an ihren Zügeln zerrten.

Ein seltsames Gespann: vorne der Gutsherr, der schnaufte und schwitzte, um die Pferde zu bändigen. Dahinter die Vollblüter, die sich dagegen wehrten und sich sogar auf die Hinterbeine stellten. Aber der Gutsherr war sehr stark, zäh und ausdauernd: »Denen werd' ich's schon zeigen, wer hier Herr im Hause ist! Die haben mir zu folgen! Hier bestimme ich, wo es lang geht! Die geben auch noch auf!« Und er behielt Recht. Nach vielen Tagen Krampf und Kampf war der Wille der Pferde gebrochen. Sie fügten sich in ihr Schicksal und trotteten mit hängenden Ohren wie alte Esel hinter dem Gutsherrn her. Und der war richtig stolz. Er hatte wieder gewonnen.

Über die Methoden, wie man die Pferde dazu bringt, noch höher, noch weiter, noch schneller zu springen oder zu laufen, gibt es hunderte von Büchern, in denen exakt beschrieben wird, wie man dressierte Pferde zu gewünschten Leistungen bringt. Leider gibt es bei uns nur ganz wenige Erkenntnisse und gar keine exakten Methoden, wie man undressierte Pferde führen kann. In den Überlieferungen vieler Naturvölker finden sich aber einige Hinweise, die von großer Bedeutung sind für das Zusammenleben des Menschen und seinem ältesten Begleiter:

:: Das Pferd akzeptiert Führung, wenn sie Autorität ausstrahlt, aber nicht wenn sie autoritär ist.
:: Das Pferd achtet Führung, wenn sie klar und eindeutig ist, aber nicht wenn die führende Hand zittert.
:: Das Pferd vergisst nie, wer ihm in bedrohlicher Situation geholfen hat, aber auch nie, wer es verletzt hat.
:: Das Pferd hat Lust auf Leistung, aber nicht, wenn es dazu gezwungen wird.
:: Das Pferd lässt sich von einem Menschen führen, aber nur, wenn es Zeit hatte, mit ihm vertraut zu werden.
:: Das Pferd schafft unglaubliche Leistungen, aber nur, wenn es seinem Reiter vertraut. Es geht sogar für ihn, im wahrsten Sinn des Wortes, durchs Feuer. Ohne ihn geriete es dabei in Panik.

Das Individuum als Störenfried
Mit der Industrialisierung wurden Individualität und Persönlichkeit aus der Arbeitswelt verbannt. Frederick Winslow Taylor schrieb vor hundert Jahren in seinem Buch Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung einen denkwürdigen Satz, der bei Managern, Personal-Chefs und Gewerkschaften zu einem Unpersönlichkeits- und Messbarkeits-Wahn geführt hat:

»Bisher stand die Persönlichkeit an erster Stelle. In Zukunft werden die Organisation und das System an die erste Stelle treten.«

Der Mensch in seiner Individualität galt als Störenfried in dem System. Das Außergewöhnliche wurde auf das Gewöhnliche reduziert. »Bei mir kann jeder Kunde jede Farbe haben, vorausgesetzt sie ist schwarz«, sagte damals Henry Ford. Und in seinen Fabriken war in großen Lettern zu lesen: »Arbeite – rede nicht! Arbeite – denke nicht!« Der Mensch in seiner Subjektivität wurde als Risikofaktor wahrgenommen und zum Objekt erniedrigt, das man exakt und objektiv messen, steuern und bewerten konnte.

Frederick Winslow Taylor warnt zwar in seinem Buch ausdrücklich: »... dass man dieses System nicht anwenden darf auf gebildete Mechaniker oder intelligente Arbeiter, die lesen und schreiben können. Jedoch bei einem Mann von der geistigen Unbeholfenheit eines normalen Arbeiters ist das System vollständig angebracht und durchaus nicht unfreundlich.« Entweder haben die Personalchefs der deutschen Unternehmen nur Analphabeten eingestellt oder aber die REFA-Ingenieure, die Tarif-Kartell-Funktionäre und die Absolventen der Manager-Schulen haben diese Warnung wohl übersehen oder bewusst ignoriert, um ihre eigene Machtposition zu festigen.

Das Ende der Unpersönlichkeit
Glücklicherweise tritt jetzt der Mensch im Wirtschaftsleben immer deutlicher in Erscheinung, zum Schrecken der Objektivitäts- und Messbarkeits-Fanatiker: als kundiger Kunde, als mündiger Mitarbeiter und als aufgeklärter Aktionär. Personen und Persönlichkeiten wollen ihr Recht. Unpersönlichkeit ist nicht mehr gefragt.

:: Kunden entpuppen sich als Menschen und wollen keine Nummer mehr sein.
:: Mitarbeiter werden zu Know-how-Trägern, ja sogar zum Vermögen eines Unternehmens und wollen keine Stellen-Inhaber mehr sein.
:: Organisationen entwickeln sich zu lebendigen Netzwerken von Menschen und sind nicht mehr ein totes, starres Gebilde von Linien und Kästchen. „Jeder Arbeitsplatz hat ein Gesicht.“
:: Wirtschafts-Leistungen werden immer mehr von Menschen für Menschen erbracht und weniger von Maschinen in einer Fabrik.
:: Gewinne werden von Personen berechnet und nicht von Computern. Subjektive Einschätzungen spielen dabei eine gewaltige Rolle – bei den Controllern, Wirtschaftsprüfern und Analysten.

Die ganzen kunstvollen Gebilde von Schein-Sicherheit, Schein-Objektivität und Schein-Genauigkeit geraten gegenwärtig ins Wanken. Unberechenbarkeit, Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit machen jetzt Angst. An den von Taylor zitierten Größen »Organisation« und »System« blättert jetzt der Lack. Die Fassade bröckelt, Risse werden immer größer. Die beiden Kolosse werden demaskiert. Und zum Vorschein kommen Gesichter: Menschen, Personen und (leider nur wenige) Persönlichkeiten. Hundert Jahre Dressur und Entmündigung haben ihre Spuren hinterlassen.

Die neue Sicherheit in turbulenten Zeiten
Wenn der Glaube an die Allmacht und Allwissenheit der Bürokratie erschüttert ist, haben wir aber eine tolle Chance: die Renaissance der Persönlichkeit, die Wiedergeburt des undressierten Menschen. Es ist zwar unbequem, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, aber immer noch besser als mit hängenden Ohren und gebrochenem Rückgrat morgens zur Arbeit zu schleichen, dort in seinem Laufrad zu drehen und darauf zu warten, wann man auf die Straße geworfen wird. Die alte Sicherheit von »lifelong employment« ist weg. Dafür gibt es aber eine neue: »lifelong employability«.

Wer sich als Lebens-Unternehmer versteht, sein eigenes Know-how, seine Fähigkeiten und seine Fertigkeiten marktfähig hält, der gewinnt nicht nur Selbstbewusstsein und Stolz, sondern auch eine neue, tragfähige Sicherheit. Und er befreit sich von der Macht der Manipulatoren, der »Zirkus-Dompteure« (diesen Beruf bezeichnete man 1870 in London als »Manager«, weil sie in der Manege managen) und der Bürokraten.

Die Ent-Fesselung der Menschen hat aber auch für die Unternehmen gigantische Vorteile. Wenn die Mitarbeiter ihre »Nach-17:00-Uhr-Fähigkeiten« schon vor 17:00 Uhr ent-falten dürfen, dann gibt das nicht nur einen Schub von Energie und Produktivität, sondern auch Stolz auf die eigene Arbeit und das Unternehmen. Strahlende Mitarbeiter leisten mehr – und die Kunden merken es auch. Führungskräfte sind jetzt mehr Animateur als Dompteur. Sie führen kraftvoll mit attraktiven Bildern von der Zukunft, mit spannenden Aufgaben und glaubhaften Werten. Sie bündeln die Kräfte auf ein Ziel und schaffen Stolz auf ein gemeinsames Werk.

Sie wissen, was die Arbeit mit Menschen bedeutet: täglich mit Unberechenbarkeit umzugehen. Sie verzichten gerade deshalb auf die Krücken der Bürokratie, die Sicherheit durch Entmündigung vorgegaukelt hat. Sie schaffen eine neue Sicherheit durch:

:: shared vision,
:: shared mission, und
:: shared values.

Gemeinsam getragene Ziele und Werte sind ein stabileres Fundament für Wirtschaftlichkeit und Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens als alle Richtlinien der Welt. Die neue Sicherheit der Unternehmensführung braucht nicht mehr den alten Instrumentenkasten der Bürokraten. Wir haben jetzt die Chance zur Entmachtung der Regelbewacher, die ihre Macht bekamen durch die Existenz der Systeme und nicht kraft ihrer eigenen Persönlichkeit. Wenn die starren Organisationen brechen und die exakten Systeme zerfallen, bekommt das Individuum mehr Gewicht.

Individualisierung und Instrumentalisierung schließen sich aus. Die Methoden-Gurus der Management-Schulen verlieren hoffentlich bald ihre Jünger, und die Führungskräfte besinnen sich auf ihre eigene Intelligenz. Sie dürfen und sollen mit ihren rationalen und emotionalen Fähigkeiten kraftvoll führen. Schließlich sind sie ja Führungskräfte. Sie führen mit Charakter, Charme und Charisma.

Sie machen den Menschen Mut, geben ihnen Orientierung und ent-fesseln sie, damit diese ihre gesamten Fähigkeiten ent-wickeln und ent-falten. Wenn diese Führungskräfte besonders erfolgreich sein wollen, dann beherzigen sie die sechs goldenen Regeln der Pferde-Liebhaber. Falls das zu viele sind, kann ein Satz von Leo Tolstoi zur Orientierung dienen:

»Man kann ohne Liebe Holz hacken und Steine behauen. Man kann aber nicht ohne Liebe mit Menschen umgehen.«

Das Zeitalter der Unpersönlichkeit geht zu Ende. Wir haben jetzt die Chance zur Renaissance der Persönlichkeit. Nutzen wir sie – heute, jetzt, jeder an seinem Platz. Alle zusammen.  

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