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Kleine Sittengeschichte berufs- und lebensbezogener Bildung

Parallel zu unserer arbeitsteiligen entwickelte sich eine bildungsteilige Gesellschaft. Doch müssen in der modernen Welt Bildung und Leben nicht besser zusammenwachsen? Eine ganzheitliche Bildung in einer weiter zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaft muss den Menschen in den Mittelpunkt stellen.

        


 
iese kleine als freundliche Polemik angelegte Geschichte spiegelt als Metapher eine im Laufe der Geschichte zunehmender Arbeitsteilung entstandene »Bildungsfragmentierung«, was durch sie verloren ging und durch welchen Paradigmenwechsel vieles davon wiederzugewinnen wäre.

Graue Vorzeiten
Bei Schulen muss man nicht automatisch an Gebäude denken, in denen unterrichtet wird oder an Welt- und Menschenbilder, in die andere eingeladen werden. Auch z.B. bei Delphinen spricht man von Schulen und stellt sich spielerisch aufeinander bezogene Gruppen vor. In frühen Zeiten waren »Schulen« Gruppen von Menschen, die z.B. gemeinsam jagten, Werkzeuge herstellten, Speisen bereiteten oder neue Terrains erkundeten. Soweit dabei Lernen im Spiel war, handelte es sich um praktisches Miteinander- und Voneinander-Lernen. Das Wissen lag in den Menschen und konnte nur durch direkten Kontakt und gemeinsames Handeln ausgetauscht werden. Es ging also weniger um erklärbares Wissen, schon gar nicht auf Medien übertragen, sondern um vorwiegend intuitive Anteilnahme am Handlungs- und Erfahrungswissen anderer.

Meist ging es ums Überleben, daher um unbedingtes Angewiesensein auf Gemeinschaft, um praktische Lebensgestaltung, um situatives Begreifen von Zusammenhängen und manchmal um das Erfassen eines vielleicht höheren Sinns im Ganzen. Man war auf Mitwirkung und besondere Talente jedes Einzelnen und Stärkung der Gemeinschaft durch ihn angewiesen. Da die Lebenswelt überwältigend komplex und oft genug bedrohlich war, konnte Kontrollillusion schwerlich aufkommen. Man behalf sich mit Ritualen und Mythen, um das Ausgeliefertsein an höhere Gewalten erträglich zu halten. Glaubt man den frühesten Zeugnissen von Kunst und Metaphysik, dann scheinen jenseits des Materiellen Sinnfragen den Menschen immer beschäftigt zu haben. Der Mensch scheint – im vielleicht wichtigsten Unterschied zum Tier – eben ein mythisches Wesen zu sein. Man kann sich vorstellen, wie er sich durch Erzählungen an den Lagerfeuern auf sich und seinen Platz im Kosmos einen Reim zu machen versucht.

Zeit des homo faber
Im Zuge der Zivilisation kam es zu einer zunehmenden Differenzierung gesellschaftlicher Funktionen. Manche der Jäger oder Bauern mögen sich zu Herstellern der dafür gebrauchten Gebrauchsgegenstände und Werkzeuge entwickelt haben. Man kann sich die allmähliche Entwicklung von handwerklicher Erzeugung bis hin zu industrieller Herstellung und die damit verbundene weitere Tätigkeits- und Wissens-Spezialisierung bis hin zum Beispiel zu einem Mechatroniker oder Internethändler ausmalen. Individuelle Tauschgeschäfte und das Bewirtschaften der eigenen Angelegenheiten differenzierten sich bei zunehmender Arbeitsteilung in Einrichtungen des Wirtschafts- und Finanzwesens in viele spezielle Funktionen und Professionen.

Moderne
Dabei entwickelte sich parallel zur Arbeitsteilung eine bildungsteilige Gesellschaft. Erst entstanden eigene Bildungsvorgänge, die sich aus der praktischen Lebensbewältigung und den alltäglichen Beziehungen lösten. Man setzte sich für Lehren und Lernen extra zusammen, hielt Wissen dafür fest, was wiederum Lesen und Schreiben und dafür eigene Lernvorgänge notwendig machte. Dies führte zu immer mehr Objektivierung von Wissen und dessen Ablösung von Persönlichkeiten und Gemeinschaften, also zur Herauslösung von Bildung aus konkreten Lebenszusammenhängen.

Lehrer wurde ein eigener Beruf und separate Bildungseinrichtungen zu Orten des Lernens. Bis sich auch daraus die heute geläufigen Fach- und Wissenschaftsdisziplinen und unsere Bildungseinrichtungen entwickelten. Mit diesen entstand auch viel zu oft ein unkoordiniertes aus den Lebens- und Steuerungszusammenhängen konkreter Herausforderungen losgelöstes Nebeneinander fachlicher Belehrungen. Als würden Lernenden abwechselnd Puzzleteile unterschiedlichster Art auf den Tisch gekippt und ihnen überlassen, wie alles zusammengesetzt und auf konkrete Lebens- und Berufssituationen angewendet werden soll. Lebenstauglichkeit wird auf späteren Transfer verschoben. Es verbreitete sich eine Eigendynamik der Fachdisziplinen und ihrer Einrichtungen und der Funktionen darin.

Heute gibt es immer mehr Bildungs-Einrichtungen und -Funktionäre, die – obwohl vom Gemeinwesen finanziert – ihre Beiträge selbstoptimierend und selbstbezüglich nach ihren Gesichtspunkten gestalten. Es wurden immer mehr Fächer unterrichtet und weniger Menschen in der Bewältigung ihrer Lebens- und Arbeitsaufgaben. Die Integration der Kompetenzen und Wirklichkeitszugänge in die Praxis wurde in Praktika und Sich-Durchschlagen in der beruflichen Praxis und damit in die Verantwortung damit alleingelassener Individuen verschoben. Indessen orientieren sich Bildungsgänge sowie das Verhalten der Player immer mehr am Erlangen von Berechtigungen.

Und was ist mit den ursprünglichen Erfordernissen der Gesellschaft? Wer sorgt für Integration der Disziplinen, für Implementierung in Selbststeuerung von Individuen und Systemen? Offensichtliche Mängel werden meist nur mit rudimentären Reflexen beantwortet. Babylonische Verwirrung der Fachsprachen und Methoden sind durch interdisziplinäre Extra-Events nicht zu beseitigen. Die Aneignung von Wissen, Kompetenzen für gemeinsamen Erwerb und die Integration in Persönlichkeit und Professionalität sind in meist wenig begleiteten Praktika und Berufseinstiegen schwer zu erwerben. Das Begreifen der eigenen Person als Brennpunkt und Träger aller Entwicklungen wie auch das gegenseitige Begreifen der anderen Player und das spezifische Zusammenspiel mit ihnen bleibt Nebenthema, um das sich die Individuen selbst kümmern oder dafür spezielle Veranstaltungen besuchen. Fragen der individuellen Stimmigkeit von Wirtschaften und Bildung, von Lebens- und Sinnerfüllung wurden Privatsache. Wenn das aus dem Ruder läuft, sind Pfarrer oder Psychotherapeuten, neuerdings auch Coaches gefragt.

Bildung konzentriert sich auf Fachdisziplinen und darauf ausgerichtete Organisationen. Immer mehr gilt Wissenserwerb als Grundlagenbildung, die Berufs- und Lebensgestaltung wurde zum Transferproblem.

Aufbruch in die Postmoderne
Und der Mensch? Sind seine Probleme nicht immer noch oder wieder die unserer frühen Vorfahren? Die Welt scheint komplexer denn je. Hoffnungen auf Beherrschbarkeit erweisen sich als Illusion. Vom angesammelten Wissen kommt zur Geltung, was in konkretes Handeln und in ein berufliches Selbstverständnis eingebracht werden kann. Wir brauchen mehr denn je in der Persönlichkeit verankertes ganzheitliches Erfahrungswissen, das nicht in Fachdisziplinen oder Grundwissen versus Anwendungswissen eingeteilt werden kann. Letztlich entscheidend für Erfolg und Wohlbefinden im Berufsleben sind Handlungs- und Erfahrungs-Kompetenz, Urteilsfähigkeit, professionelle Intuition und deren Vernetzung in Leistungs- und Verantwortungsgemeinschaften. Solche Dimensionen sind nicht verfügbar oder entwickelbar, wenn nicht die dahinter stehende Persönlichkeit eingeladen ist, mit ihren Talenten, ihren Lebensmotiven, ihrem Bedürfnis nach Lebenssinn und Würdigung. Wir brauchen mehr denn je Zusammenspiel in Gemeinschaft, um mit den sich auftürmenden Problemen fertig zu werden.

Was braucht ganzheitliche Bildung in einer weiter zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaft? Den Menschen im Zentrum und zwar den Menschen bezüglich seines beruflichen Lebensweges und des Ausfüllens von Organisationsrollen. Und den Menschen in relevanten Gemeinschaften und in der Begegnung von Kulturen. Es geht erneut um eine am Menschen orientierte Bildung, die gleichzeitig Leistungsfähigkeit und Vitalität von Organisationen stärkt. Sind wir dahin unterwegs? Ohne Umkehr in den oben skizzierten Entwicklungen wohl kaum. Dazu braucht es Paradigmenwechsel verschiedener Art.

Zunächst müsste das Verständnis von Grundlagen neu gefasst werden. Wissensbestände und ihre Vermittlung dürfen nicht länger unhinterfragt als Grundlagen begriffen werden. Neue Grundlagen könnten berufsbezogene Lernkultur, Begreifen der eigenen Persönlichkeit, Entwicklung einer Personalen Professionalität, Designkompetenz bezüglich Projekten, Prozessen und Arbeitsorganisation Lernen an Beispielen aus Beruf und Leben, Kollegiales Lernen und Arbeiten usw. sein. Natürlich sollte sich Bildung nicht auf Arbeitsplatz- und Berufslernen beschränken. Vor dieser Verengung wird immer wieder zu Recht gewarnt. Doch dient diese Warnung zu oft der Rechtfertigung bisheriger Zustände. Zumindest für eine längere Umstellungszeit kann man das ganze Spektrum ausgehend vom Arbeitsplatz- und Professions-Lernen her angehen. Durch Horizonterweiterungen kann dann in Richtung Allgemeinbildung erweitert werden, wobei als didaktische Herausforderung Integrationsprobleme statt Vermittlungs- und Transferprobleme entstehen.

Wie, wann, von welchen Quellen und auf welche Weise soll notwendiges Wissen einbezogen werden? Der Zugriff auf Inhalte verliert in Zeiten des Internets im Vergleich zum Aufbau persönlicher Kompetenzen zunehmend an organisierender Bedeutung. Bildungsfragen allgemeiner Art können am Beispiel konkreter Arbeits- und Lebensbezüge aufgeworfen werden. Wie zeigen sich Wert- und Sinnorientierung in konkreten Antworten auf Berufs- und Lebenssituationen? Wenn sie sich dort nicht abbilden lassen, verkümmern sie zu Sonntagsthemen, die Montag morgen vergessen sind. Wieso sollten sich nicht alle Fragen allgemeiner Bildung im Beruf und am Arbeitsplatz zeigen? Man sieht die Zusammenhänge nur nicht, wenn man Allgemeinbildung auf lexikalische Bildung verkürzt, wenn man Kultur als die des Feuilletons und nicht auch die des Wirtschaftsteils der Zeitung begreift. Wie können solche Wert- und Sinnkompetenzen über konkrete Arbeitsplatz- und Professions-Kompetenzen hinaus in andere Lebensbereiche übertragen, mit diesen verbunden werden? Zu allen wesentlichen Bildungsinhalten gibt es überdies Fragen der Berufs- und Organisationsgestaltung und entsprechender Kulturgestaltung durch Individuen und Systeme. Wie oft scheitern Menschen in kulturellen Berufsfeldern, weil sie nur auf ihr Fach, nicht aber auf die beruflichen und institutionellen Belange ausgerichtet sind?

Es sollte also Schluss sein mit gewohnheitsmäßigem Rückzug auf Fächer und Fakultäten. Die Überwindung der Fakultäten-Trennung und der Theorie-Praxis-Trennung, die Neuausrichtung an integrativen Belangen der Arbeit und daran, wie Menschen Träger dessen werden können, müssen selbstverständliche Anforderungen sein, denen sich Bildungs-Berufe und -Einrichtungen stellen.

Gemeinschaftliche Verantwortung aller Bildungsverantwortlichen für Lernen, das an Lebensgestaltung, an Berufsgestaltung von konkreten Menschen orientiert ist, sollte nicht löbliche Ausnahme sein, sondern Alltag werden. Bildungseinrichtungen müssen anspruchsvoller werden im Zusammenstellen von Bildungsprogrammen und in gemeinschaftlich verantworteter »integrierter Programmqualität«, damit es für Lernende einfacher wird. Wenn sie sich in gut bereiteten Rahmen bewegen, können sie sich auf ihr persönliches Lernen, auf die Ausbildung eines individuellen selbstverantworteten Lernstils und auf kooperatives Lernen in Gemeinschaften ausrichten.

Letztlich ist an diesen Herausforderungen nichts neu, doch bleiben sie von organisierter Bildung meist unbeachtet. Geschieht nicht das meiste Lernen ohnehin bei der Arbeit und im konkreten Leben? Müsste nicht Bildung hauptsächlich dort gestaltet werden? Wie kann das spontane Lernen dort zu Bildungsprogramm erhoben und angereichert werden? Wie müssten sich die Bildungs-Landschaft, die Institutionen, die Selbstverständnisse der Bildungsfachleute ändern, damit sie nicht den Menschen aus dem Leben holen, um ihn zu bilden, sondern Bildung ins Leben und an den Arbeitsplatz tragen? Wäre nicht der Aufbau einer darauf ausgerichteten Lernkultur ein neues Verständnis von Grundlagen? Lernen würde dann um die Lösung von Lebens- und Arbeitsproblemen, um die Entwicklung der Persönlichkeit, um Begegnung in der Gemeinschaft und um Sinn von Leben und Arbeiten herum organisiert.

Kreatives gemeinschaftliches Lernen und kreatives Arbeiten bieten die gleichen didaktischen Herausforderungen. Also müssen sie auch einem Strukturprinzip folgen. Wir brauchen eine integrierte Didaktik für Lernen und Arbeiten. Wir brauchen eine Integration für Arbeits- und Lern-Kultur in Organisationen. Wir brauchen eine dafür geeignete Didaktik und Fachleute, die helfen Lernkultur so zu etablieren, dass sie selbstgetragen weitergepflegt und auf die 80 Prozent didaktisches Niemandsland des bisher unbetreuten Lernens ausgebreitet werden kann. Dazu müssten Mauern in und um Bildungseinrichtungen eingerissen werden, müssen Berufsgewohnheiten und scheinbare Selbstverständlichkeiten infrage gestellt werden. Bildungsfachleute müssten ihre Bildungsburgen, in denen leicht Privilegien und Einfallslosigkeit verwaltet werden können, verlassen. Sie müssten sich mit ihren Beiträgen an Menschen direkt in beruflicher und gesellschaftlicher Verantwortung ankoppeln und diesen vor Ort in ihren Feldern Dienste erweisen. Dann wäre vieles wiedergewonnen, was im Laufe der Sittengeschichte von berufs- und lebensbezogener Bildung verloren gegangen ist.