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Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.):
Deutsche Zustände. Folge 6

ISBN: 3518125257
Erscheinungsjahr: 2007
Suhrkamp

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Von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft?
        


 
eit 2002 erkundet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Deutsche Zustände. Im Mittelpunkt des von Wilhelm Heitmeyer geleiteten Projekts stehen Erscheinungsweisen, Ursachen und Entwicklungen »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«. Es geht um die Frage, wie Menschen unterschiedlicher sozialer, religiöser und ethnischer Herkunft sowie mit verschiedenen Lebensstilen von der Mehrheit der Gesellschaft wahrgenommen werden und mit feindseligen Mentalitäten konfrontiert sind. Über einen Zeitraum von zehn Jahren werden jährlich 2000 repräsentativ ausgewählte Personen in Deutschland befragt. Ihre Antworten sollen Aufschluss geben über die Phänomene, ihre Erklärungen und die Veränderung über die Zeit. Dabei bleiben die grundsätzlichen Fragestellungen immer gleich, um Verläufe und Entwicklungen zeigen zu können.

Die in den letzten Jahren um sich greifende Angst und Unsicherheit in der Gesellschaft hat negative Folgen für schwache Gruppen – Fremde, Obdachlose, Homosexuelle oder Langzeitarbeitslose. Ihnen schlägt Feinseligkeit, Abwertung und Diskriminierung entgegen, die auf einer Ideologie der Ungleichwertigkeit beruhen. Seit geraumer Zeit ist wieder öfter vom Aufschwung die Rede und die Möglichkeiten am Arbeitsmarkt nehmen wieder zu. Werden diese Entwicklungen von einer Abnahme feindseliger Einstellungen in der Bevölkerung begleitet? Welche Folgen ergeben sich durch die Entspannung am Arbeitsmarkt für das Verhältnis von Menschen und Gruppen zueinander?

Was bei diesen Befragungen ans Tageslicht kommt, gibt allen Grund zur Sorge. Wilhelm Heitmeyer und seine Mitstreiter decken Jahr für Jahr eine Welt aus Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Abwertung von Homosexuellen, Obdachlosen und Behinderten in den deutschen Köpfen auf. In Folge 6 widmen sich die Bielefelder Forscher erstmals der Frage, welche Rolle das ökonomische Denken in der Bevölkerung spielt, das heißt inwiefern die Kriterien der Nützlichkeit und Effizienz zur Beurteilung von Gruppen von Menschen angewandt werden. Heitmeyer beobachtet ein »Eindringen von Kalkülen der Marktwirtschaft in die Gesellschaft, die so zur Marktgesellschaft wird«. Die Einstellung gegenüber anderen Menschen ist für viele Befragte tatsächlich eine Angelegenheit ökonomischer Abwägung. Fast 44 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu »Wir können uns in dieser Gesellschaft nicht zu viel Nachsicht leisten«. Nur wer etwas leistet zählt, der Rest ist eine Last, scheint ein großer Teil der Bevölkerung zu denken.

Nicht länger sind es ausschließlich politische Ideologien, wie etwa Rechtsextremismus, die abwertende oder feindselige Einstellungen erzeugen. Auch eine ökonomische Ungleichheit könne in eine »Ideologie der Ungleichwertigkeit« umgewandelt werden. Für Heitmeyer ist das ein äußerst alarmierender Befund: das »ökonomistische Denken« gefährde den Zusammenhalt der Gesellschaft. So werden etwa Langzeitarbeitslose in der Öffentlichkeit immer öfter stigmatisiert und ihnen werde vorgeworfen, durch ihre mangelnde Arbeitsmoral selbst den Grund für ihre Arbeitslosigkeit zu schaffen. In der Studie werden solche Einstellungen damit erklärt, dass bei sinkender Soziallage das Bedürfnis steige, »sich von Personen am unteren Rand der Sozialhierarchie abzugrenzen, indem man diesen eine negativere Arbeitshaltung zuschreibt, als sich selbst«. Denn merkwürdigerweise geht die Abwertung von Langzeitarbeitslosen weniger von Menschen in höheren sozialen Lagen aus, sondern eher von Menschen aus unteren sozialen Lagen.

Folge 6 von Deutsche Zustände wartet aber auch mit positiven Entwicklungen auf: Die Forscher fanden heraus, dass die Fremdenfeindlichkeit erstmals seit Beginn der Erhebungen 2002 als Folge der gesunkenen Arbeitslosigkeit signifikant gesunken ist. Auch bei den Etabliertenvorrechten, also der Bevorzugung Alteingesessener, lassen sich positive Entwicklungen feststellen.

Dennoch: Deutsche Zustände zeichnet ein bedenkliches Bild der deutschen Gesellschaft. Der besondere Wert dieser Untersuchung liegt darin, dass es sich nicht nur um eine Momentaufnahme der deutschen Gesellschaft handelt, sondern die Entwicklung von Einstellungen der Bevölkerung aufzeigt. Auch in Folge 6 werden wieder sehr gelungen die Umfrageergebnisse eingebettet in eine Vielzahl von Essays, die erklären und vertiefen sowie den nötigen theoretischen Hintergrund liefern.