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Cass R. Sunstein:
Infotopia. Wie viele Köpfe Wissen produzieren

ISBN: 3518585215
Erscheinungsjahr: 2009
Suhrkamp

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Auf der Suche nach Wissen
        


 
önnte man das weltweit in den Köpfen der Menschen verstreute Wissen einsammeln und sich dieses Weltwissen zunutze machen, wäre man dann nicht imstande sämtliche Wissensgrenzen zu überspringen? Schon Aristoteles war überzeugt, dass »die Gesamtheit« zu besseren Schlüssen kommen könne als jeder Einzelne, und sogar als »die Besten«: »Denn es sind viele, und jeder hat einen Teil an Tugend und Einsicht. [...] Der eine beurteilt diese, der andere jene Seite, und so urteilen alle über das Ganze.« Wissen also Gruppen von Menschen immer mehr als einzelne Menschen? Und falls dies so wäre: würden sich dann nicht in unseren Zeiten des Internets, da wir immer nur einen Mausklick von jeglicher denkbarer Information entfernt sind, ungeahnte Möglichkeiten eröffnen?

Cass R. Sunstein, Professor an der Harvard Law School und innenpolitischer Berater von US-Präsident Obama, widmet sich in seinem neuen Buch der Produktion und Verbreitung von Informationen und Wissen. Diese Aufgabe ist nicht mehr nur die Sache von Experten und exklusiven Kreisen, sondern ein kollektives Unterfangen: von heimischen Computern aus tragen über Wikis, Blogs und Open-Source-Projekte die unterschiedlichsten Menschen zum Aufbau des Wissensbestandes bei. Über das Internet kann dann wiederum jedermann auf das gesammelte Wissen der Welt zugreifen. Ist das solcherart entstehende Infotopia – so der Titel des Buches – Fluch oder Segen?

Dass eine große Menge von Menschen zusammen zu erstaunlichen Ergebnissen kommen kann, hat schon James Surowiecki in seinem Buch Die Weisheit der Vielen beschrieben: Vor die Aufgabe gestellt, die Anzahl von Bohnen in einem Behälter zu schätzen, würden die meisten Menschen hoffnungslos scheitern. Lässt man jedoch eine große Anzahl von Personen schätzen, so würde der Mittelwert der abgegebenen Schätzungen der korrekten Zahl erstaunlich nahe kommen. Sind die Beteiligten einigermaßen gut im Schätzen, dann wird mit steigender Gruppengröße eine bessere Lösung erreicht. Umgekehrt kann dies jedoch auch gelten: Geben die Gruppenmitglieder mit weniger als 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine richtige Antwort, dann wird die Gruppe zu einer schlechteren Lösung kommen als eine Einzelperson. Man könnte nun annehmen, die Leistung von Gruppen ließe sich verbessern, wenn sich die einzelnen Gruppenmitglieder untereinander austauschen.

Als »Deliberation« bezeichnet Sunstein den Informationsaustausch innerhalb von Gruppen und widmet sich ausgedehnt den Voraussetzungen für die Gestaltung von Diskussionsprozessen. »Deliberation« kann zu vernünftigen Ergebnissen führen, wenn gewisse Rahmenbedingungen herrschen, ansonsten führt der Austausch innerhalb von Gruppen jedoch keineswegs zu klügeren Urteilen. Bei der Darstellung des Phänomens des Gruppendenkens stützt er sich auf eine Menge empirischer Befunde. Wie kann es also sein, dass ein Gruppenurteil einmal das Urteil eines Einzelnen schlägt und dann wieder hoffnungslos danebenliegt? Eine Erklärung lautet, dass in Gruppendiskussionen Fehler und Fehleinschätzungen der einzelnen Mitglieder nicht nur reproduziert, sondern sogar verstärkt werden. Zudem tendieren Gruppen dazu, Informationen, die allen Mitgliedern schon bekannt sind, stärker zu gewichten als solche, die nur wenigen bekannt sind. Es ist leicht vorstellbar, wie gefährlich dies sein kann: Schlüsselinformationen bleiben unter Umständen ungenutzt. Viele Menschen schließen sich aus sozialem Druck einer gegebenen Einschätzung an oder einfach, weil sie geneigt sind zu glauben, was viele andere glauben. Weil Menschen nicht auffallen oder nicht ausscheren möchten, kann es zu verfälschten Gruppenurteilen kommen. Ein weiteres Phänomen bei Gruppendiskussionen ist, dass Teilnehmer nach Diskussionen extremere Auffassungen vertreten als sie zuvor hatten. Indem Selbstsicherheit und Vertrauen in das eigene Urteil während Diskussionen steigen, kommt es zur Polarisierung von Meinungsgruppen.

Welch große praktische Relevanz solche Fehler in Gruppenentscheidungen haben können, zeigt Sunstein anhand einer Reihe von Beispielen aus der jüngsten amerikanischen Geschichte: die Entscheidung, dass es Massenvernichtungswaffen im Irak gäbe, die Challenger-Katastrophe – in jedem dieser Fälle waren ausreichend Informationen in der Gruppe verfügbar, um die faktisch richtige Entscheidung zu treffen. Jedoch hat die soziale Dynamik der Deliberation verhindert, dass die Informationen richtig zusammengefügt wurden.

Aristoteles hat also nicht in jedem Fall Recht: Mit anderen Meinungen und Argumente auszutauschen, muss nicht unbedingt klüger machen – manchmal ist genau das Gegenteil der Fall. Dies mag keine große Überraschung sein, es empfiehlt sich aber, diese Erkenntnis im Hinterkopf zu behalten, wenn die unendlichen Möglichkeiten einer Schwarmintelligenz im weltumspannenden Netz gepriesen werden. Auch die Wissensgesellschaft mit ihren vernetzenden Technologien schützt nicht vor den oben beschriebenen Fallstricken. Überhaupt sind die technischen Neuerungen mit Vorsicht zu genießen: Sunstein erinnert an die Vision des »Daily Me«, einer Nachrichtensammlung, die individuell auf die persönlichen Interessen abgestimmt ist. Wird die Durchlässigkeit von Informationen derart beschränkt, bestünde die Gefahr in einem so genannten Informationskokon isoliert zu werden. Abweichende Meinungen werden nicht mehr wahrgenommen und die Basis gemeinsamer Erfahrungen mit anderen Menschen wird immer kleiner.

Trotz dieser Unzulänglichkeiten in der Aggregation von Informationen durch Deliberation zeigt sich Sunstein optimistisch, wenn er Prognosemärkte als konkreten Anwendungsfall beschreibt. Wenn Menschen mit echtem Geld auf den Ausgang von Wahlen wetten, zeigt sich regelmäßig, dass die Prognosen akkurater als jene der Meinungsforscher sind. Auch Unternehmen nutzen Prognosemärkte, um den Zeitpunkt des Markteintritts bestimmter Produkte vorauszusagen. Warum funktionieren solche Märkte dermaßen gut? Eine recht einfache Erklärung könnte nach Sunstein lauten: Wenn Menschen bereit sind, ihr Geld zu verwetten, dann müssen sie mit größerer Wahrscheinlichkeit richtig liegen als wenn sie einfach nur die Anzahl von Bohnen in einem Gefäß abschätzen sollen. Da Märkte gewöhnlich nicht-deliberativ sind, kommen auch die oben beschriebenen sozialen Faktoren nicht zum Tragen, die sich in vielen Fällen negativ auf das Ergebnis auswirken.

Sunstein weiß natürlich, dass Märkte nicht die Antwort auf alle Fragen parat haben. Aber er ist überzeugt davon, dass Märkte bestens dafür geeignet sind, eine große Anzahl verschiedener Menschen dazu zu bringen, Informationen auszutauschen. »Deliberation« stößt zu häufig an Grenzen. Vor diesem Hintergrund ist Sunstein äußerst optimistisch, was die Potentiale von Wikis betrifft. Diese würden in der Gesellschaft verstreute Wissensteilchen zusammenführen. Dass hingegen die Blogosphäre ähnlich effizient wie das Preissystem des Marktes verstreute Informationen zusammenführt, davon ist Sunstein nicht überzeugt: er gibt viele Beispiele davon, dass Blogs hauptsächlich mit gleichgesinnten Webseiten verlinken. Daher würde überwiegend »ein atemberaubend großes Spektrum an Behauptungen, Perspektiven, Tiraden, Einsichten, Lügen, Fakten, Nichtfakten, Sinn und Unsinn« sichtbar. In diesem Lichte sind dann wohl auch MySpace, Facebook und andere soziale Netzwerke zu sehen, die ebenfalls Beispiele für Informationskokons darstellen. Positiver wiederum sieht Sunstein Open-Source-Projekte, weil diese die Aggregation von Wissen mit Diskussion und Kreativität kombinieren.

Keine der Methoden der Informationsgewinnung ist perfekt. Die Zukunft wird wohl in der Kombination von Verfahren liegen, wobei man sich immer genau über die Stärken und Schwächen der jeweiligen Methoden bewusst sein muss. Sunsteins Suche nach Systemen, die geeignet sind, verstreute Informationen zu aggregieren, bietet einen interessanten Blick auf das heutige Internet. Eine großer Teil der spannendsten Internetprojekte wenden Strategien an, Informationen verschiedener Nutzer zu sammeln und neues Wissen zu generieren; nichts anderes steckt hinter Googles PageRank Algorithmus oder Amazons auf Collaborative Filtering basierende Produktempfehlungen. Trotz all der Probleme, die mit der erfolgreichen Aggregation von Informationen zusammenhängen, ist Sunstein Optimist: Für ihn steht fest, dass das Internet mit seinen vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten noch einiges in petto hat, um das verstreute Wissen der Welt zu sammeln.