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Joyce Appleby:
Die unbarmherzige Revolution. Eine Geschichte des Kapitalismus

ISBN: 3867741352
Erscheinungsjahr: 2011
Murmann Verlag

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Zufall der Geschichte
        


 
er Kapitalismus steht heute im Kreuzfeuer der Kritik – und dies obwohl kaum ein System solchen Reichtum auf der Welt geschaffen hat wie das kapitalistische. Es stimmt freilich, dass dieser Reichtum höchst ungleich verteilt ist, aber Kapitalismus ist kein Nullsummenspiel. Daher sind Ängste vor Chinas und Indiens Aufstieg, wie sie vor allem in den USA verbreitet sind, völlig unbegründet – mehr Reichtum auf der Welt kann nur besser sein. Wer will schon arme Nachbarn? Letztlich kommt Reichtum allen zugute und folglich heißt die große Herausforderung für das 21. Jahrhundert: Der Kapitalismus hat so viel Reichtum geschaffen, nun muss dieser aber auch in die ärmeren Regionen der Welt getragen werden.

So könnte grob zusammengefasst die Zukunftsvision von Joyce Appleby lauten, zu der sie in ihrem Buch Die unbarmherzige Revolution. Eine Geschichte des Kapitalismus gelangt, nachdem sie sich auf fast 600 Seiten mit der Entwicklung des Kapitalismus auseinandersetzt. Das Buch der amerikanischen Historikerin ist eine lebhafte, unparteiische Schilderung der Ursprünge, des Wachstums und der gegenwärtigen Situation der kapitalistischen Ordnung. Die Geschichte des Kapitalismus beginnt mit Innovationen und die Wiege des Kapitalismus sieht Appleby im England des 17. Jahrhunderts: Dort führten neue Produktionsverfahren zu einer sinkenden Zahl an Männern und Frauen, die mit der Herstellung von Nahrungsmitteln für die Gesellschaft befasst waren und es entstand ein riesiger Überschuss an Arbeitskräften. Die Dampfmaschine revolutionierte das Produktionswesen und die Wissenschaft brachte in der Folge eine Reihe weiterer technologischer Neuerungen hervor. Im Laufe des sich anschließenden Jahrhunderts fiel der Anteil der Bevölkerung, der in der Landwirtschaft arbeitete, von 80 auf 40 Prozent. Rasch wurde die dem Kapitalismus innewohnende Fähigkeit, Reichtum hervorzubringen, erkannt und englische Innovationen wurden kopiert. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatten die USA und Deutschland England überholt. Joyce Appleby schließt ihre Schilderung der geschichtlichen Entwicklung des Kapitalismus im Jahr 2008, zu einem Zeitpunkt also, da niemand wusste, ob die rund um den Erdball angestoßenen Rettungsaktionen im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise Wirkung zeigen würden.

Wichtig ist es der Historikerin Appleby, den Kapitalismus nicht als ökonomisches, sondern als kulturelles System zu beschreiben. Weil sich ohne eine unterstützende Kultur der Kapitalismus niemals entwickeln hätte können. Die im Kapitalismus im Zentrum stehenden privaten Initiativen zur Produktionssteigerung sind verknüpft mit jedem Aspekt des Lebens und wurden selbst beeinflusst von den Erfahrungen der Akteure. Der Kapitalismus ist ein historisches Phänomen, das sich stets mit seinen beteiligten Menschen ändert. Menschen, die die derzeitige Wirtschaftskrise durchleben, werden etwa gänzlich andere ökonomische Entscheidungen treffen als Nachgeborene. Wir tragen Erfahrungen in uns und beeinflussen dadurch das wirtschaftliche Leben.

Der Kapitalismus schuf neue kulturelle Formen, entwickelte neue Geschmäcker und führte zu einem völlig neuen Vokabular, um die Auswirkungen der privaten Unternehmungen auf die Gesellschaft als Ganzes zu diskutieren. Mit der Entwicklung des Kapitalismus gingen auch neue Wege des Denkens und Handelns einher. Der Beginn des Kapitalismus ist gleichzeitig »eine Aufsehen erregende Abweichung von Normen, die 4000 Jahre geherrscht hatten« sowie der Einzug einer neuen Mentalität, die privaten Investoren die Verfolgung von Profiten auf dem Rücken alter Werte und Gewohnheiten erlaubte.

All dies zeigt, dass Menschen den Kapitalismus formen können und nicht bloß passive Empfänger sind. Auf diesen Punkt weist Appleby hin, um das große Geheimnis zu lüften, das Ökonomen mit ihren mathematischen Formeln aus der kapitalistischen Ordnung gemacht haben. Diese Vernebelung hat immer dazu geführt, den Kapitalismus für ein frei schwingendes System, für einen losgelösten Mechanismus zu halten. Aber dieser Schluss ist vollkommen falsch, weil der Kapitalismus ein kulturelles System ist, das von Menschen geformt wird. Der Zusammenbruch in der Krise hat ja auch gezeigt, dass die mathematischen Formeln nicht viel ausrichten können und dass der menschliche Faktor viel größer ist als angenommen.

Joyce Appleby nimmt den Leser mit auf eine atemberaubende Reise durch den Kapitalismus. Dabei steht immer der einzelne Unternehmer im Mittelpunkt ihrer Analyse. Ausgehend von britischen Innovatoren – von James Watt bis Josiah Wedgwood – zeichnet sie ein Bild der amerikanischen (Vanderbilt, Rockefeller, Carnegie) und deutschen (Thyssen, Siemens, Zeiss) Unternehmer, die im Sinne eines Schumpeterschen »kreativen Zerstörers« für das Fortkommen des Kapitalismus maßgeblich waren. Sie alle schufen neue Industrien und zerstörten dabei alte. Applebys Tempo ist zeitweilig schwer zu folgen, nie hält sie sich lange mit einem Thema auf. Henry Ford, der Aufstieg des Automobils und das moderne Fließband sind in ein paar Seiten abgehandelt. Mit der Hast und Eile bezahlt der Leser die allumfassende Darstellung – mehr passt nicht zwischen zwei Buchdeckel. Eine gewisse Oberflächlichkeit ist daher wohl unvermeidbar und wie Joyce Appleby selbst eingesteht: Der Kapitalismus gleicht einem Chamäleon, wodurch das Einfangen all seiner Veränderungen ein schwieriges Unterfangen ist.

In diesem Sinne schließt Joyce Appleby ihr überzeugendes Werk und wirft einen Blick auf China, das immer wieder die üblichen Annahmen über die notwendige Verbindung von Demokratie und Kapitalismus herausfordert. Der Aufstieg Chinas ist das beste Beispiel für die Fähigkeit des Kapitalismus, sich an neue Umstände anzupassen. Auch mit Blick auf die Wirtschaftskrise bemüht sie die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus, wenn sie optimistisch in die Zukunft blickt und davon ausgeht, dass Gesellschaften weiterhin ihre Ökonomien zur Verfolgung gemeinsamer Ziele anpassen. Die Revolution des Kapitalismus mag zwar eine unbarmherzige sein, aber sie ist keine geistlose.