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Harald Welzer:
Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand

ISBN: 3100894359
Erscheinungsjahr: 2013
S. Fischer

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Viele kleine Schritte
        


 
nsere Zukunftswünsche sind restlos veraltet. Immer mehr von allem, mehr Möglichkeiten, mehr Güter, mehr Konsum. Unsere Glücksvorstellungen sind aus der Vergangenheit abgeleitet, mehr fällt dem westlichen Wohlstandsbürger nicht ein. Ebensowenig wie der Politik, die vorgibt, mit dem Wachstum gehe es ewig weiter und meint, mit bloßen Korrekturen der großen anstehenden Probleme Herr zu werden. Aber damit sei sie am Holzweg, so Harald Welzer. Der Soziologe ruft in seinem Buch Selbst denken zu mehr auf als den üblichen kleinen Maßnahmen: eine Umkehr sei nötig. Denn mit energiepsarenden Kühlschränken lasse sich keine Energiewende herbeiführen und »nachhaltige« Produkte kurbeln den Verbrauch einfach noch mehr an. Es geht vielmehr darum, neue Wege des Konsumierens und Genießens zu finden, abseits der aus der Nachkriegszeit stammenden Kultur des »alles immer«.

Harald Welzer hat es zu seiner Aufgabe gemacht, Aufmerksamkeit auf alternative Formen des Wirtschaftens und nachhaltiger Produktion zu richten und Wege zu Initiative und Vernetzung aufzuzeigen. Nicht weniger verfolgt er mit seiner Stiftung Futurzwei, aber auch in seinem neuen Buch geht es ihm um die Aufforderung zum Widerspruch und zur Verweigerung, damit Neues entstehet. Denn dass die Aussichten nicht allzu rosig sind, blendet der Wohlstandsbürger gerne aus. Mit einem »Tunnelblick« lebt es sich eben unbeschwerter. Die Zerstörung der Umwelt, die Ausbeutung der natürlichen Energieressourcen werden ausgeblendet; solange Benzin aus der Zapfsäule und Strom aus der Steckdose kommt, lassen sich die Krisen leicht beiseite schieben. Dabei, so Welzer, hätten wir das Privileg in einer reichen demokratischen Gesellschaft zu leben und sollte man daher nicht die Chance nutzen, »gerade in einer solchen Gesellschaft Handlungsspielräume ganz anders zu nutzen als man es gewöhnlich tut«?

Den Aufruf zum Handeln richtet Welzer sodann an den Leser. Nicht von oben, aus Parteien, Wirtschaft oder Wissenschaft, werden die wesentlichen Erneuerungen kommen, sondern aus der Zivilgesellschaft. Es sind die individuellen Lebensbereiche, aus denen die Impulse stammen, durch die so wichtige Neuerungen wie Carsharing, Mehrgenerationen-Häuser oder Ökolandbau ins Leben gerufen wurden, die unsere Kultur teilweise verändert haben. Welzer setzt auf den Erfindungsreichtum jedes Einzelnen. Nur wenn wir »selbst denken« und nicht ob der großen Probleme in hilfloser Erstarrung verharren, würden sich die Dinge verändern.

Nach dem essayhaften ersten Teil des Buches folgt im zweiten Teil eine Vorstellung von Betrieben und Menschen mit ihren Projekten, die – wie von Welzer gefordert – ihre Handlungsspielräume wahrnehmen, Dinge anders tun als gewohnt, Widerspruch üben und damit im Kleinen für große Umwälzungen sorgen. Wie aber wird nun aus diesen vielen kleinen Schritten eine neue zukunftsfähige Welt? Und wie sieht Welzer die künftige Rolle von Politik und Parteien? Zunächst gesteht der Autor, dass auch er noch kein fertiges Bild einer neuen Moderne vor Augen hat und plädiert für ein experimentelles Vorgehen: Fehler zulassen, Dinge auch wieder zurücknehmen, wenn sie sich als nicht zielführend erweisen, Neues einfach ausprobieren und in Richtungen gehen, ohne vorher die Garantie für das Funktionieren zu haben. Und hier kommen Politik und Wissenschaft ins Spiel: Damit sich die auf diese Weise gesetzten Minischritte zu einem großen Ganzen zusammenfügen, müssten die Institutionen für die passende Kombination der Puzzlestücke sorgen.

Der Autor schreckt nicht davor zurück, direkte Apelle an den Leser zu richten: »Ich spreche über Sie.« So vernünftig die vorgstellten Einzelmaßnahmen auch scheinen, von einem schlüssigen Gesamtkonzept ist das von Welzer Vorgetragene weit entfernt. Ob jedoch die vom Autor präferierten Trippelschritte tatsächlich aus dem Schlamassel führen, dieser Zweifel bleibt. Mit der schlagkräftig vorgebrachten Gesellschaftsanalyse des ersten Teils des Buches kann daher der zweite Teil der Lösungsvorschläge leider nicht mithalten. Aber möglicherweise gibt es auch keine Rundumlösung für die gegenwärtigen Probleme? Dass Harald Welzer nicht bei der Theorie stehen bleibt und konkretes Handeln, Geschichten aus dem echten Leben beschreibt, macht zumindest Hoffnung.