Home         Autoren         Newsletter         Kontakt         Impressum

 

Gert Scobel:
Der fliegende Teppich. Eine Diagnose der Moderne

ISBN: 3596036895
Erscheinungsjahr: 2017
FISCHER Taschenbuch

Wollen Sie dieses Buch kaufen? Klicken Sie hier!

Wackelige Zeiten
        


 
ie Sache sei ganz einfach, beginnt Gert Scobel sein Buch: »Im Wesentlichen läuft es darauf hinaus zu zeigen, dass die Welt keinen Boden hat.« Und weil unser Leben zu dieser Welt gehört, hat, so Scobel, auch unser Leben keinen Boden – jedenfalls keinen echten. »Wir leben auf einem fliegenden Teppich.« Und weil der Philosoph, Theologe und TV-Moderator Gert Scobel eine Diagnose der Moderne beschreiben möchte, macht er sich zunächst daran, der Zeit, in der wir leben, auf die Spur zu gehen. Denn die verschiedensten Disziplinen stellen Überlegungen an, wie unser »Jetzt« zu fassen ist. Eine Vielzahl verschiedener Prozesse wird zur Erklärung herangezogen – von Säkularisierung über Individualisierung bis hin zu Pluralisierung und Globalisierung reicht das Spektrum. Doch seien all diese Teilprozesse aufeinander bezogen, weswegen Scobel ein Charakteristikum unserer Zeit als Ausgangspunkt seiner Diagnose wählt, das all diese Gegenwartsbeschreibungen durchzieht: die Zunahme von Komplexität.

Die Komplexität unserer Zeit hat zur Folge, dass wir mit allerhand Vielfalt und Widersprüchlichkeit konfrontiert sind und in dieser »verwickelten Struktur« stets versuchen müssen, alles zusammenzubringen und einen Sinn zu finden. Darin, meint Scobel, »ähnelt die Moderne einem Teppich – einem Gewebe aus unterschiedlichen Textilien und Farben, das an unterschiedlichen Stellen des Teppichs unterschiedliche Muster hervorbringt«. Die sich ausdifferenzierende Technisierung und Dominanz der Wissenschaft im Alltagsleben hält der Autor für ein herausragendes Muster.

Die menschliche Existenz bewegt sich zwischen zwei Polen – dem Hochfliegenden und der Furcht vor dem Fall. Der Ikarus-Mythos als auch der Sündenfall der christlichen Theologie begründen eine tiefsitzende Angst vor dem Absturz ins Bodenlose. Mit dem fliegenden Teppich hat der Autor eine einleuchtende Metapher für die Tatsache gefunden, dass wir ohne festen Boden unter den Füßen sind und dennoch recht gut zurechtkommen. So wie ein Teppich geknüpft wird, nehmen wir Gesprächs- und Handlungsfäden anderer auf und knüpfen daraus tragfähige Beziehungen und Gemeinschaften. Durch Rückkopplungen werden die Beziehungen stärker und belastbarer. Mit Hilfe unserer Vorstellungskraft, mit Geschichten und Fiktionen werden wir getragen und vermeiden den Absturz. Dabei zieht sich die Metapher des fliegenden Teppichs durch das gesamte Buch, wenn Gert Scobel eindrucksvoll das Zusammenspiel von Realität und Fiktion sowie die Macht der Narration analysiert.

Weil wir keinen direkten Zugang zur Wirklichkeit haben, brauchen wir Fiktionen, Geschichten und Vorstellungen. Erst durch sie erkennen und begreifen wir die Welt. Dies gelingt aber nur, wenn wir wissen, dass es sich um Fiktion handelt und immer wieder loslassen. Der Mensch erschafft Bilder, um die Welt einfacher zu machen. Aber natürlich, das ist dem Autor wichtig, dürfen wir nicht bei der Vereinfachung stehen bleiben. Immer wieder muss daran erinnert werden, dass es sich nur um ein Bild handelt und immer wieder muss das Bild korrigiert werden.

Der fliegende Teppich ist bestimmt keine leichte Kost. Denn die Sache ist dann doch nicht so einfach wie Gert Scobel am Beginn seines Buches verspricht. Um den Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu erkennen, gilt es genauestens hinzuschauen. Eine klare Trennlinie mag es einmal gegeben haben, heute müssen wir uns klar machen, dass es vielfältige Überlagerungen gibt und wir immer wieder neu entscheiden müssen, wo das eine anfängt und das andere aufhört. Gert Scobel hat ein lesenswertes Buch geschrieben, das zum Nachdenken anregt und neue Perspektiven eröffnet auf die Situation des Menschen in der gegenwärtigen Welt.