Nur wenn Mitarbeiter in den Unternehmenskontext eingebettet sind und an einem Strang ziehen, wird auf die Unternehmensziele hingesteuert. Gefragt ist ein Führungsprozess, der alle Mitarbeiter auf einen gemeinsamen Referenzrahmen einschwört, kurz: Kohärenz schafft.
er Begriff der »Kohärenz« bezeichnet ein wichtiges Phänomen in der Führung von Mitarbeitern. Er lässt sich leicht durch Anleihen aus den Disziplinen der Linguistik, Psychologie und Physik erschließen.
Eva Schoenke1, Universität Bremen, beschreibt im Glossar der Textlinguistik: »Seit Anfang der 8Oer Jahre bezieht sich der Begriff Kohärenz fast immer auf den einem ganzen Text zugrundeliegenden Sinnzusammenhang (einschließlich des durch den Text aktivierten Wissens) bzw. auf das Ergebnis kognitiver Prozesse in der Textverarbeitung.«
Nussbaumer2 meint zum gleichen Thema, »(...) daß das Erkennen des Textzusammenhangs, die Herstellung von Kohärenz die aktive gedankliche Beteiligung der Kommunikationspartner verlangt.«
Boutilier3, British Columbia University, schreibt: »Kohärenz ist ein Maß für den Erklärungszusammenhang und Vereinbarkeit von Meinungen. Maximierung von Kohärenz ist eng mit dem Abduktionsproblem verknüpft.« (Die Bezeichnung »Abduktion« stammt von C. S. Peirce, das Konzept ist jedoch schon wesentlich älter.)
Robert Wynands4, Universität Bonn, beschreibt den Begriff in der Physik: »Die herausragenden Eigenschaften des Lasers sind seine hohe räumliche und zeitliche Kohärenz. Die räumliche Kohärenz bedeutet, dass der Strahl stark gebündelt und gerichtet ist und sich daher gut auf kleinsten Raum fokussieren lässt. Das wird zum Beispiel in jedem CD- bzw. DVD-Spieler ausgenutzt, um die mikroskopisch kleinen Strukturen auf der CD mit einem feinen Laserlichtfleck auszulesen. (...) Die zeitliche Kohärenz bedeutet, dass das Licht des Lasers extrem monochromatisch, einfarbig, ist: die gesamte Leistung des Laserstrahls ist bei einer einzigen Farbe konzentriert.«
Whitehead5 vermittelt Schlussfolgerungen für die Managementaufgabe. »Mit anderen Worten wird vorausgesetzt, dass kein Einzelwesen in vollständiger Abstraktion vom System des Universums gedacht werden kann, und die Aufgabe der spekulativen Philosophie besteht darin, diese Wahrheit an den Tag zu legen. Diese Eigenschaft ist ihre Kohärenz.«
Losgelöst vom »Ganzen« kann man nicht sinnvoll arbeiten
Mitarbeiter einer Unternehmung können sich also nicht als eine Einzelperson verstehen, welche losgelöst vom Unternehmensziel innerhalb einer Firma existiert. Gerade die Übereinstimmung, also die Einbindung in den Unternehmenskontext - in der Literatur als Kohärenz bezeichnet - vermittelt dem Mitarbeiter »Sinn« an seinem Arbeitsplatz. Insofern wird das, was der Mitarbeiter täglich durchführt »logisch«, also widerspruchsfrei.
Gewöhnlich beobachten wir mit der Methode der Differenz. In einem Unternehmen begegnet der Mitarbeiter zahlreichen Differenzen. Es kann eine Differenz der angepeilten Ziele sein, weil Top- und Middle-Management Ziele unterschiedlich darstellen und weitergeben. Es kann eine Differenz zwischen artikulierten Zielen und fortlaufendem Tun des Managements sein, weil Ressourcenallokation nicht mit der Zielformulierung im Einklang steht. Es kann die Differenz zwischen eigenen privaten Interessen und den Anforderungen im Beruf sein. Aus der Differenzbeobachtung erfolgen Urteile des Mitarbeiters über die angetroffene Situation. Ein solches Urteil kann positiv oder negativ sein. Positiv bedeutet, die Abweichung ist vernachlässigbar klein, dann tritt Beruhigung über die augenblickliche Lage ein. Negativ bedeutet, die Abweichung ist inakzeptabel groß.
Nach solchen Urteilen setzt gewöhnlich Dialog ein, der sich immer in Folge einer entdeckten Inkohärenz ergibt. Man fragt den anderen, weshalb er glaubt, dass sein Verhalten »logisch« in das hineinpasst, was beide als Referenzrahmen akzeptieren. »Dabei entdeckt man häufig, dass der Anspruch an die Kohärenz dem anderen abgefordert wird, während man in seiner eigenen Position gerne Ausnahmen zulässt.«5
Die täglichen Inkohärenzen
Die wohl schlimmste Lage der Inkohärenz ergibt sich, wenn verschiedene Grundprinzipien, z.B. gewerkschaftliche Aspekte, Demokratieverständnisse, Shareholder Value, Customer Value, individueller Freiraum, Profiterzielung, Freizeitregelungen usw. in einer willkürlichen Zusammenhanglosigkeit gegenüberstehen.
In solchen Fällen benötigt man eine konkrete Vorgehensweise, um die dringend notwendige Koheränz herzustellen. »Jede Wissenschaft muss sich ihr Instrumentarium selbst ersinnen.«5
Es ist in der Disziplin des Managements von großer Bedeutung, dass alle Einzeltatsachen innerhalb eines Unternehmens auf ein gemeinsames Bezugssystem abgebildet werden können. Gelingt es nicht, dieses Bezugssystem zu schaffen, oder gelingt es nicht, ein gemeinsames Bezugssystem zu schaffen, dann werden die Einzelaktionen in ihrer jeweiligen »Logik« auf differente Bezugssysteme abgebildet und mit großem Einsatz als kompatibel zum eigenen Bezugssystem verteidigt.
Wirtschaftliche und organisatorische Folgen der Inkohärenz
Damit entfallen die Wirkungen sämtlicher Managementsteuerungen. Incentives für Führungskräfte werden wirkungslos, Lob und Tadel gegenüber Mitarbeitern werden sinnlos und die Aufstellung konkreter Budgets oder Projektpläne entwickelt sich zur überflüssigen Pflichtübung, mit der Folge, dass diese mühsam erarbeiteten Pläne zur »Schrankware« verkommen und im täglichen Tun des Unternehmensgeschehens nicht mehr zum Einsatz kommen.
Die Folgen können milliardenschwer sein und sind zugleich für die Betroffenen emotional stark belastend.
Selbst ein Miniprojekt liefert keine geeigneten Ergebnisse mehr, wenn die Projektteilnehmer ohne einen gemeinsamen Referenzrahmen arbeiten. Dieses Bezugssystem wird methodisch in einem Projektplan entwickelt. Es ist also große Vorsicht geboten, wenn Projektpläne vorliegen, denn deren Existenz sagt noch nichts über deren Genesis aus. Fehlt es nämlich am Charakter des »Gemeinsamen«, dann fehlt der gemeinsame Referenzrahmen, der die Einzelaktivität kohärent erscheinen lässt. Ohne gemeinsamen Referenzrahmen fallen infolgedessen die Urteile der Mitarbeiter bezüglich eines konkreten Einzelschritts different aus.
So kommt es zu dem immer wieder auftauchenden Streit zwischen Vertrieb und Produktion, weil beide Gruppen einen jeweils eigenen Referenzrahmen verwenden. Es ist Aufgabe der hierarchisch höher gelegenen Führungskräfte, den Referenzrahmen als »gemeinsam« zu gestalten, andernfalls zerreiben sich die einzelnen Mitarbeiter an den widersprüchlichen Urteilen.
Die Iterationsschleife bottom-up und top-down
Dabei scheint alles so einfach zu sein. »Business ist einfach, nicht leicht«, wie Jack Welch es ausdrückt.
6 Man müsste doch nur allen Mitarbeiter vermitteln, dass Unternehmen aus ihrer Arbeit für die Kunden ihre Existenz beziehen, dann hätte man doch schon einen gemeinsamen Referenzrahmen. Leider reicht dies nicht. Die wissenschaftlichen Untersuchungen zur Kohärenz zeigen, dass die mentalen Konzepte von Mitarbeitern von zahlreichen äußeren Einflüssen durchdrungen sind. Eltern, Lehrer, Freunde, Kollegen und Medien beeinflussen unser aktuelles mentales Konzept über das, was ein Unternehmen erfolgreich macht.
Jeder Teamleiter ist aufgefordert, mit seinen unmittelbaren Mitarbeitern über deren Konzept: »Was macht unser Team, unsere Abteilung, unseren Bereich, unser Unternehmen erfolgreich?« ausreichend zu sprechen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass jeder Mitarbeiter die gesamte Unternehmensstrategie kennt oder sogar auswendig darstellen kann. Es kommt darauf an, dass der Teamleiter ein gemeinsames Konzept innerhalb seines Teams aufbauen kann, das alle als Referenzrahmen benutzen, um die Logiken abzuprüfen: »Ist das, was ich aktuell erledige, sinnvoll und zielführend innerhalb dieses Referenzrahmens?«.
Dem Teamleiter kommt dann die Aufgabe zu, den Referenzrahmen seines Teams in den Referenzrahmen seiner Abteilung einzugliedern. Dabei unterstützt ihn sein Abteilungsleiter. Jede notwendige Nachjustierung orientiert sich dabei an dem Bemühen, den hierarchisch höheren Referenzrahmen zu erhalten. Die Abteilungsleiter verfahren in gleicher Weise mit ihrem Bereichsleiter und diese wiederum mit ihren Geschäftsführern.
Nimmt man diese Prüfungen fortwährend vor, kommt es im Laufe der Zeit zu einem kohärenten Referenzsystem, in dem man jede Einzeltätigkeit der Basis abbilden kann. Was vielleicht zeitaufwendig und inhaltlich schwierig anmutet, ist in der Realität ein simpler Vorgang: Man prüft, ob die aktuelle Tätigkeit dazu geeignet ist, die Unternehmensziele zu erreichen. Dazu muss man die Ziele für das laufende Geschäftsjahr natürlich genau kennen. Bei diesem Prüfungsvorgang werden bottom up sehr unterschiedliche Vorgehensweisen angeboten.
Wie schon erwähnt, kann ein Salesteam andere Vorstellungen vom Vorgehen haben als ein Keyaccountmanagement oder ein Produktionsleiter. Bleiben die differenten Vorstellungen erhalten, gibt es nervtötenden und kapitalvernichtenden Streit, der das gesamte Unternehmensgeschehen begleitet. Es ist Aufgabe der obersten Leitungsorgane, diese Differenzen (des Referenzrahmens) aufzudecken und zu beseitigen. Der Beseitigungsvorgang selbst benützt dazu wiederum einen Referenzrahmen höherer Ordnung.
Folgen der Kohärenz im Business und im Privaten
Alle erfolgreichen Unternehmensleiter können zeigen, dass der Führungsprozess mit der stärksten Wirkung in der Schaffung kohärenter Referenzrahmen über die Managementlevel hinweg liegt. Hat man diesen Führungsprozess nicht, ersetzt man ihn meist durch eine Zwangslogik des Budgetprozesses (sozusagen als letztgültige Referenz). Leider wird dieser Budgetprozess dann im Alltag durch die bestehenden anderen Referenzsysteme eingeholt und als inkohärent zu diesen beurteilt.
Wie auch immer man es drehen möchte: Kohärenz und die daraus folgenden Mitarbeiterurteile sind der beste aller möglichen Wege, Ideen »auf die Straße zu bringen« und kann in der Schlüssigkeit und Gemeinsamkeit der Unternehmenspläne beobachtet werden.
:: Kohärenz ist bedeutungsvoll für CEOs, um sich gegenüber Shareholdern zu positionieren.
:: Kohärenz hilft, rechtlich eigenständige Tochtergesellschaften zu koordinieren.
:: Kohärenz mit dem Businessplan des Kunden ist der wohl wichtigste Vorgang, um Produkte und Leistungen wettbewerbsfähig zu entwickeln.
:: Ziele und Vorgehensweisen können durch intelligente Führungsmethoden kohärent gemacht werden.
:: Ownership ist eine Folge von Kohärenz im Unternehmen.
:: Charisma, Rollenverständnisse als Führungskraft, Identitätsbildung und soziale Integration sind durch Kohärenz stark unterstützt.
Führungskräfte treffen auch in anderen Bereichen unvermutet auf Kohärenzprobleme. So können z.B. familiäre oder partnerschaftliche Konzeptionen mit der beruflichen Belastung in Konflikt kommen. Auch dazu gibt es Möglichkeiten, geeignete Referenzrahmen zu gestalten.
1 Schoenke, Eva: Forschungsgegenstand: die universitäre Lehre, in: Impulse aus der Forschung 1/2001, Universität Bremen
2 Linke, A., Nussbaumer, M., Portmann, P.R.: Studienbuch Linguistik, 1994, 215ff.
3 Boutilier, C. und Becher, V.: Abduction as Belief Revision. Artificial Intelligence, 1995
4 Wynands, Robert: Jahr der Physik, November 2000, Universität Bonn
5 Whitehead, Alfred North: Prozess und Realität, 1979
6 Slater, Robert: Business is simple, 2002