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Mobile Zukunft
Bereits der Urmensch war mobil – auf der Suche nach Nahrung und Schlafplatz legte er täglich 20 Kilometer zurück. Und noch immer treibt uns das Stammhirn als nunmehr Nomaden der Arbeit, der Liebe und der Zerstreuung umher: Immer schneller, immer weiter, immer umfassender. Wie sieht das mobile Leben in zehn Jahren aus?

        


 
nterwegs sein ist eine Funktion des Stammhirns: Wie der Nahrungs- und Sexualtrieb, gehört auch der Trieb nach Bewegung zu den genetischen Eigenschaften des Menschen, die er zwar kulturell überformen, aber niemals ablegen kann. Dabei müssten wir gar nicht mehr aus dem Haus. Gemäß einer Studie der Future Foundation arbeiten bereits heute 46 Prozent der Europäer zumindest gelegentlich von Zuhause aus. Der Anteil der reinen Teleworker wird von heute 8,6 Prozent bis 2020 auf 80 Prozent ansteigen (Zahlen zu Großbritannien). Online-Einkaufsmöglichkeiten gibt es mittlerweile in vielen Städten – der Hauslieferdienst bringt die frische Milch und das saftige Steak. Und auch Spaß und Unterhaltung ist breitbandig für den Heimcomputer verfügbar.

Aber wir werden weiter unterwegs sein, weil Mobilität – in den Worten des Trendbüros Hamburg – »Basis des modernen Lebensstils ist, die Selbstverwirklichung und Anerkennung verheißt.« Mobilität ist Lifestyle geworden.

The medium is the message
Die Medien der Mobilität schrieben die Geschichte der Menschheit immer wieder um. Das Rad, der Buchdruck, die Eisenbahn, das Auto, das Flugzeug, Radio und Fernsehen veränderten jeweils Selbst- und Weltwahrnehmung der Menschen radikal. Die über fünfzigjährige Theorie des Marshall McLuhan, »Understanding Media«, erhellt diesen Zusammenhang: Der Buchdruck beispielsweise förderte die Wissensproduktion und Wissensverbreitung, aber auch die jeweiligen Nationalgefühle durch die Entstehung von Literatur in ihren eigenen Sprachen. Die Eisenbahn rückte die Länder, welche untereinander Handel trieben, näher zusammen. Sie führte aber auch zu einem Spezialisierungsschub des Wissens, einfach dadurch, dass sie spezialisierte Bildungsstätten geografisch besser verband.

McLuhans These gipfelte in »The Medium is the Message«: Nicht so sehr die transportierten Inhalte verändern die Welt, sondern die größeren Horizonte, welche neue Medien eröffnen. Formuliert, um zu verstehen, was das damals neue Fernsehen bewirken wird, gilt sie noch viel mehr im Zeitalter des weltumspannenden Netzes, des World Wide Web. McLuhan sprach von einer Prothese unseres Nervensystems: Das Fernsehen erlaube es, unsere Augen und Ohren an jeden erdenklichen Platz hinzubewegen.

Das Web 2.0 hat schließlich auch noch unsere Hände (sprich: unsere Einflussmöglichkeit) weltumspannend gemacht: das Web 2.0, bei dem es keine Rollenteilung in Sender und Empfänger mehr gibt, sondern wo alle Sender und Empfänger zugleich sind. Wir versuchen heute zu verstehen, welche strukturellen Änderungen dieses neue Medium bewirken wird.

Welche neuen kollektiven Bewusstseinszustände werden durch die Konvergenz von physischer und virtueller Mobilität hergestellt? Eine Antwort wird erst die künftige Geschichte geben können. Aber gewisse Indizien zeigen heute bereits die Richtung:
:: Wir werden vermehrt unterwegs sein, dieses Unterwegssein aber immer weniger als solches empfinden: Mobilitätszeit wird zur Aktivitätszeit;
:: Tätigkeiten und Beziehungen lösen sich von Ort und Zeit;
:: Neue Bindungen entstehen und Heimat selbst wird ortlos, »ageografisch«.

Die Zukunft des Verkehrs
Die physische Mobilität beansprucht Platz, der kaum mehr ausgeweitet werden kann. Kilometer- und stundenlange Staus kosten laut einer Studie von BMW allein in Deutschland 100 Milliarden Euro im Jahr. Die International Association of Public Transport hat ermittelt, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit von Fahrzeugen in der Innenstadt Londons gerade mal Postkutschen-Tempo erreicht, nämlich 16 km⁄h. Die Entwicklung der telematischen Verkehrssteuerung wird zu einer Verflüssigung des Straßenverkehrs führen.

In Wien und Berlin erproben Taxiunternehmen das Floating Car Data System. Sie melden dauernd Staus und Verkehrsbehinderungen. Volkswagen spannt mit Google Maps für ein neuartiges Navigationssystem mit Touchscreen Interface zusammen. Das System soll, wenn es je marktreif wird, die staufreien Wege aufzeigen. Die Informationstechnologie wird also das Reisen sicherer und komfortabler machen. Aber diese Fortschritte werden durch die prognostizierte Zunahme des Verkehrs größtenteils wieder weggefressen.

Der Handy-Code
Wenden wir uns der virtuellen Mobilität zu, die zurzeit beträchtlich tiefer greifende Veränderungen durchläuft. Seit der Einführung der Post und der Erfindung des drahtgebundenen Telefons ist das Mobiltelefon zweifellos der wichtigste Treiber der virtuellen Mobilität, vor allem wenn in absehbarer Zeit Handy und Web benutzerfreundlich verschmolzen werden. In wenigen Jahren wird die Mobiltelefon-Penetration in Europa gegen 100 Prozent erreichen. So genannte Location Based Services auf der Basis von Mobiltelefonen werden es dem Reisenden erlauben, überall auf der Welt alles zu finden, was er sucht: Den Prada-Store genau so wie das nächste Mitglied des Lions' Club. Das Handy wird wissen, wo ich bin und wo all das ist, was ich gerade in dieser Minute brauche.

Den Service-Opportunitäten werden keine Grenzen gesetzt sein. Das Handy als Kalorienzähler? Kein Problem. Es zählt die Schritte, die wir machen ebenso wie die Kalorien, die wir einnehmen. Diese Zukunft hat bereits begonnen: MyFoodPhone ist ein individueller Ernährungsberater. Der Abonnent schickt ein Bild seines Lunches via MMS an MyFoodPhone und erhält umgehend die aufaddierte Kalorienzahl – mit Empfehlung, was er bei der nächsten Mahlzeit besser meiden sollte. Die Pendlerin der Zukunft öffnet den gerollten, im Handy integrierten Bildschirm und liest darauf die elektronische, laufend aktualisierte und personalisierte Zeitung – natürlich mit integriertem E-mail, Videostreams und persönlichem Merkzettel. Das E-paper, der falt- oder rollbare Bildschirm, wird gemäß E-Ink-Präsident Russ Wilcox in 3 bis 5 Jahren marktreif sein. Das Handy kann überdies eine Tastatur auf jede beliebige Fläche projizieren – interaktive Lichtfelder, auf denen wir gleichsam in der Luft unsere Nachrichten tippen werden.

Dabei werden Programme und Dateien nicht lokal, sondern auf dem Web verwaltet werden. Die heute noch übliche lokale Speicherung und Pflege von Software und Dateien ist eine überkommene, weil unpraktische Lösung, denn sie zwingt uns, Experten zu werden, wo wir nur User sein wollen: Experten des Datenschutzes wie auch der Abwehr feindlicher Angriffe. Aber die Menschen werden künftig die Informationstechnologie in gleicher Weise stressfrei und gedankenlos benutzen wollen, wie sie heute den Lichtschalter betätigen.

Für diese Entwicklung sprechen Indizien, etwa dass Google das Online-Textverarbeitungsprogramm Writely übernommen hat, oder dass Michael Robertson, der Gründer von mp3.com, angekündigt hat, Büroprogramme zum Download zur Verfügung zu stellen. Die neue Generation der Memory-Sticks ist ebenso ein Schritt in diese Richtung: Sie kreiert an jeder beliebigen Station die eigene Desktop-Umgebung.

Die illoyale Gesellschaft
Aber die Botschaft (im Sinne McLuhans) des neuen Mobilitätsmediums übersteigt das Fortbewegungs- und Medienverhalten bei weitem. Das Unterwegssein zeigt auch gesellschaftliche Folgen, die sich durch die Konvergenz von physischer und virtueller Mobilität akzentuieren werden.

Für Beispiele müssen wir nicht lange suchen: Die Scheidungsaffinität hat sich in nur wenigen Jahrzehnten enorm erhöht, so dass heute bereits jede zweite Ehe wieder geschieden wird – zunehmend, nachdem die Affäre in einem online-Chat oder beim SMS-Flirt ihren Anfang genommen hat. Andere Paare haben sich für das »Living Apart Together« entschieden: Eine Beziehung, zwei Wohnsitze. Undenkbar ohne die Möglichkeiten beider Formen der Mobilität. Aber auch Patchworkfamilien, also neu zusammengewürfelte Teilfamilien, zeugen von der »sozialen« Mobilität. Unsere Bindungen an Orte und stabile Verhältnisse schwinden dauernd.

Im Berufsleben treten vermehrt Job-Hoppers auf: höchst flexible und wechselfreudige Lebensunternehmer auf der Suche nach ihren Opportunitätshäppchen. Sie nehmen das, was ihnen Heimat, vertraute Umgebung bedeutet einfach mit! Unsere Lebensläufe mäandrieren, sie sind nicht mehr im geregelten Fluss. Der Trend zu häufigen Kurzferien, die immer öfter auch den speziellen Thrill bieten sollen, ist vor diesem Hintergrund nicht erstaunlich.

Show Stoppers
Prognosen sind schwierig, vor allem wenn es um die Zukunft geht, vermerkte Niels Bohr bissig. Als Zukunftsforscher ist man daher gut beraten, bescheiden zum Schluss einige Überlegungen anzustellen, warum es auch ganz anders kommen kann, als man bisher skizziert hat. Wo sehe ich die Show-Stoppers, auch Wild Cards genannt? Ereignisse oder Entwicklungen, welche die Ausblicke, wie wir sie aus heutigem Wissensstand wagen, Lügen strafen können?

Die physische Mobilität ist durstig, verbraucht viel Energie, zurzeit hauptsächlich Erdöl. Gut beraten ist, wer von einem Ölpreis von hundert oder deutlich mehr Dollars ausgeht, aufgrund der geopolitischen Risiken, dem Energiehunger der aufstrebenden Märkte vorweg in Asien, und aufgrund der immer teureren Förderung dieses endlichen Rohstoffes. Doch Alternativen sind vorhanden: Hybrid, Biotreibstoff, Wasserstoff. Mit einer spürbaren Verteuerung von Mobilität ist aber auf jeden Fall zu rechnen, was nicht zwingend zu einem Show Stopper werden muss, wenn wir noch rechtzeitig den Handlungsbedarf für die Energieversorgung der Zukunft erkennen.

Hingegen kann sich künftig die Gefahr von Pandemien einschneidend auf die Mobilität auswirken. Die Vogelgrippe ist bisher eine Tierseuche, SARS konnte noch unter Kontrolle gebracht werden. Doch was kommt als Nächstes? Gerade die globale Mobilität begünstigt die Ausbreitung neuer Erreger in Windeseile. Sollte eine Pandemie über einige Monate nicht in den Griff bekommen werden, würde das eine massive Störung des Waren- und Personenflusses zur Folge haben: Verbot von Sportveranstaltungen und öffentlichen Versammlungen, Schließung von Schulen, Einschränkung des öffentlichen Verkehrs. Der virtuellen Mobilität kommt in diesem Szenario eine Kompensationsaufgabe zu: Sie würde so weit als möglich die physische ersetzen.

Künftiger Terrorismus, insbesondere wenn er sich biologischer Kampfstoffe bedienen würde, könnte lokal begrenzt ähnliche Folgen haben. Insgesamt scheint sich aber eine Gewöhnung gegenüber terroristischen Bedrohungen abzuzeichnen. Ernster ist das Thema Infrastruktur. Gemäß des Leiters des OECD FutureProgramme, Pierre-Alain Schieb, sind die gegenwärtigen Investitionen in die Infrastruktur in den führenden Wirtschaftsländern ungenügend, um den künftigen Bedürfnissen gerecht zu werden. Sollten sie versagen, wie der Stromausfall in Italien oder an der amerikanischen Ostküste oder der Totalausfall des Schweizerischen Schienennetzes im Sommer 2005 gezeigt haben, würde das beide Formen der Mobilität treffen: die physische und die virtuelle.  

 

Dieser Artikel ist erstmals auf Netzwoche erschienen.

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