Die Natur ist der beste Lehrmeister. Das weiß man in den Naturwissenschaften schon lange. Die Bionik imitiert die Natur und bringt Lösungen hervor, wie sie der klügste Ingenieur nicht besser entwickeln hätte können. Auch in der Wirtschaft lohnt sich ein Blick auf die Managementprinzipien der Natur.
tellen Sie sich vor, Sie haben ein Management-Problem. Sie sind vielleicht ein Unternehmer oder ein Politiker und Ihre Organisation oder Ihr Gemeinwesen funktioniert nicht zufriedenstellend. Sie suchen nach einem Berater und hören sich um. Durch Zufall erhalten Sie einen Tipp. Angeboten wird Ihnen eine geheimnisvolle Kapazität mit unglaublich klingenden Referenzen: Erfahrungen mit sämtlichen Managementproblemen, erfolgreiche Steuerung von riesigen Organisationen und seit Jahrzehnten erfolgreich im Geschäft. Sie versuchen, Kontakt aufzunehmen. Der Vermittler bietet Ihnen ein Treffen an. Sie willigen ein, und er holt Sie wenig später ab. In einem verlassenen Waldweg stoppt Ihr Fahrer und fordert Sie auf auszusteigen. Gespannt blicken Sie sich um, um den Helden des Managements zu erspähen, aber außer Bäumen, Büschen und ein paar zwitschernden Vögeln können Sie nichts entdecken. Auf Ihre Frage, wo denn nun der geheimnisvolle Berater ist, antwortet Ihr Vermittler nur: Sie stehen mitten drin. Es ist die Natur.
Überrascht? Machen wir den Fakten-Check: Die Natur betreibt seit rund zwei Milliarden Jahren Stoffwechsel, also eine Art von Warenaustausch mit einem komplexen Ressourcen-Management – alles typischen Attribute wirtschaftlichen Handelns. Eine einfache Stubenfliege ist systemisch komplexer als jedes Wirtschaftsunternehmen. Lebewesen, wie wir Menschen, sind ein abgestimmt agierendes Gemeinwesen aus einigen Billionen Zellen, einem Hundertfachen der Einwohnerzahl unserer Erde. Die Frage drängt sich auf, mit welchen Management-Prinzipien, die »natürlichen« Wirtschaftsteilnehmer so lange so erfolgreich agieren. Aus der Technik kennt man den Begriff der Bionik, der für den Versuch steht, Anleihen aus der Natur zu ziehen, um technische Probleme zu lösen. Bekannt sind Vielen der Lotus-Blüten-Effekt, der Wasser und Schmutz von Oberflächen abtropfen lässt, oder energiesparende Winkel am Ende von Flügeln. In zwei Milliarden Jahren evolutionärem Ausprobieren und Optimieren haben sich vielfältige Problemlösungen entwickelt – nicht nur in technischer Hinsicht. Gleiches gilt auch für Informationsverarbeitung, Steuerung, den effektiven Umgang mit Ressourcen und diverse andere Aufgabenstellungen wirtschaftlichen Agierens. Die Natur ist eine Schatzkiste für funktionierende Managementlösungen!
Die Optimierung von Logistikketten nach »Ameisenart« hat beispielsweise Procter & Gamble jährliche Einsparungen in Höhe von ca. 300 Millionen Dollar pro Jahr eingebracht1. Unmittelbarer Informationsaustausch und eigenständiges Handeln – typisch für Schwärme – ermöglichen das schnelle Finden von Lösungen. Diesen Grundsätzen folgend, benötigte die Identifikation des SARS-Erregers im Jahr 2003 durch diverse internationale Forschungsinstitute gerade einmal einen Monat. So verwundert es kaum, dass die Methoden der sogenannten »Schwarmintelligenz« in einigen Bereichen bereits ein Geheimtipp sind.
Apropos »Intelligenz«: Der in der Wirtschaftstheorie eine Weile proklamierte intelligente Homo Oeconomicus, der bei jedem Einkauf rationale Grenznutzenberechnungen anstellt, wird mittlerweile aufgrund diverser empirischer Studien auf breiter Front infrage gestellt. Stattdessen haben neuropsychologische Ansätze in der Werbung, im Verkauf, im Risikomanagement und in der Mitarbeiterführung Hochkonjunktur. Die Einbettung von Werbung in lustige Spots, die Empfänger in sozialen Medien gerne weiterleiten oder mit anderen Teilen, verbreitet sich unter dem Begriff »Virales Marketing«. Nicht zuletzt helfen sogenannte »Neuronale Netze« in der Informationsverarbeitung, Muster zu erkennen. »Klar«, werden jetzt viele denken, »Natur und Wirtschaft, das ist doch ein alter Hut: Gnadenloser Wettbewerb und Rücksichtslosigkeit kennen wir doch als die Gesetze des Dschungels.« Doch diese Ansicht verkennt das Wesen natürlicher Entwicklungsprozesse. Vielmehr ist Kooperation der rote Faden der Evolution. Immer wieder war es das kooperative Zusammenspiel, das angefangen mit den chemischen Elementen, über Zellen und Bakterien bis hin zu den höheren Lebewesen, wie uns Menschen, Innovationsschübe und Wettbewerbsvorteile ermöglichten. Im Gegensatz zur Mutation erlaubt es Kooperation viel schneller, neue funktionale Eigenschaften zu erwerben, die weit über die Fähigkeiten des einzelnen Individuums hinausgehen. Gerade in Krisenzeiten sind Kooperationen deshalb eine sehr erfolgversprechende Strategie.
In Anbetracht unserer gesellschaftlichen Herausforderungen scheint unsere Spezies neue Strategien bitter nötig zu haben. Die gängigen Strategien der Wirtschaftswissenschaft waren jedenfalls in den letzten Jahrzehnten nicht geeignet, unsere drängenden Probleme zu lösen: Noch immer sterben laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation pro Jahr rund drei Millionen Kinder an Hunger und Durst. Weite Teile der Weltbevölkerung sind so arm, dass ihr regelmäßiges Essen nicht sichergestellt ist und sie sich weder medizinische Versorgung noch Bildung leisten können. Selbst in vielen Industrienationen reicht für eine alarmierend ansteigende Zahl von Menschen weder die Arbeit noch die Altersvorsorge aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Wir überfischen, überweiden und überroden unseren Planeten ohne jegliche Rücksicht und haben eines der größten und schnellsten Artensterben der Erdgeschichte verursacht. Gleichzeitig befeuern wir einen Klimawandel, von dem wir weder eine Ahnung haben, welche Auswirkungen sich hierdurch auf das Gefüge von Flora und Fauna ergeben werden, noch wie wir ihm effektiv entgegen können.
Gebetsmühlenartig wird das Mantra des Wachstums als Lösung für all unsere Probleme propagiert: je mehr desto besser. Und nur sehr wenige wagen die Frage, ob Wachstum vielleicht gar nicht die Lösung des Problems ist – oder vielleicht sogar das Problem selber? Stellen Sie sich vor, ein Baum wäre ein Unternehmen und Sie würden dem Management vorgeben, jedes Jahr um 20 Prozent zu wachsen! Der Baum ist jung und gerade einmal einen Meter hoch. Schätzen Sie doch bitte einmal, wie hoch der Baum in 150 Jahren wäre! So hoch wie ein typischer Wald, so 30 bis 40 Meter? Des Rätsels Lösung: Der Baum würde bereits die Sonne berühren! Eine ständige Wachstumsrate entspricht einer Exponentialfunktion. Diese Funktionen »explodieren« unweigerlich – je höher die Wachstumsrate desto eher! Systeme, die in ihrem Wachstum auf Ressourcen angewiesen sind – das gilt für Lebewesen wie für Wirtschaftsunternehmen gleichermaßen –, steuern daher zwangsläufig auf einen Kollaps zu. In Anbetracht der Begrenztheit der Ressourcen unseres Raumschiffes »Erde«, ist die gängige Strategie auf Wachstum zu hoffen, systematisch zum Scheitern verurteilt!
Einstein ermahnte uns sehr treffend, dass es die reinste Form des Wahnsinns wäre, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert. Wenn wir zukünftig Krisen vermeiden wollen, werden wir unser Denken und Handeln in Bezug auf Wirtschaft grundsätzlich umstellen müssen. Die Natur hat sich in den zwei Milliarden Jahren ihres Wirtschaftens zwangsweise mit der Begrenztheit unserer Heimatwelt arrangieren müssen. Deshalb erscheint es naheliegend, nachhaltiges Wirtschaften an den (Wirtschafts-) Prinzipien der Natur auszurichten. Es ist alternativlos, auch unsere Wirtschaft an die Begrenztheit unseres Ökosystems anzupassen. Die Natur ist übrigens Meister der Anpassung. Innovation findet in ihr auf verschiedenen Ebenen statt: durch Mutation, Selektion und Kooperation. So paradox es klingt: Selbst der Tod ist eine wichtige Komponente des Überlebens. Durch immer neue Generationen werden die aufzubauenden Strukturen immer wieder den gerade herrschenden Umgebungsbedingungen bestmöglich angepasst. Natürlich erfordert dies regelmäßig auch Wachstum. Aber es gibt genauso Schrumpfungsprozesse. Zyklen und Veränderungen sind die Regel. Um langfristig zu überleben ist es offensichtlich wichtiger, die Mechanismen der Anpassung zu optimieren, statt sich auf eine Maximierung von Umsätzen oder Marktanteilen zu konzentrieren.
Eine Gesellschaft, die in einem begrenzten Lebensraum überleben will, muss der Wirtschaft einen Handlungsrahmen geben, der sich an dieser Begrenztheit orientiert und das Überleben der Gesellschaft unterstützt. Durch die zunehmende Transparenz, die das Internet und die vielfältigen Medien bieten, wächst bereits der Druck auf Unternehmen, nachhaltig zu wirtschaften. Grund dafür sind zwei parallel wirkende Hebel: Zum einen werden die Leistungen der Unternehmen immer vergleichbarer. Alleinstellungsmerkmale werden von der Konkurrenz argwöhnisch verfolgt und schnellstmöglich ausgeglichen. Die eigentliche Leistung reicht in vielen Branchen kaum noch zur Differenzierung. Dem Image kommt eine steigende Bedeutung zu. Gleichzeitig lassen sich Fehlverhalten und eine darauf aufbauende Meinungsbildung in sozialen Medien kaum noch wesentlich beeinflussen. Wohlverhalten und gesellschaftlicher Gesamtnutzen des Anbieters werden zu einem zentralen Wettbewerbsfaktor. Unternehmen mit Nachhaltigkeitsanspruch werden außerdem feststellen, dass ihre Geschäfte langfristig auf einem funktionierenden Gemeinwesen beruhen. Das Gemeinwesen zu stärken ist somit Teil der Strategie, das eigene Geschäft nachhaltig zu betreiben.
Die Gesellschaft wird lernen, entsprechende Regulierungs- und Anreizmechanismen zu setzen. Der Gesamtbeitrag in Nutzen und Schaden wird aus Sicht der Gesellschaft das Maß aller wirtschaftlichen Steuerungsentscheidungen werden müssen: Wie viele auskömmliche Arbeitsplätze werden geschaffen, welche Ressourcen werden verbraucht und erzeugt, welche Schadstoffe belasten das Gemeinwesen, wie wird mit Mitarbeitern, Lieferanten und Kunden umgegangen? Vielleicht wird ja eines Tages sogar der Steuersatz an der gesellschaftlichen Gesamtbilanz des Unternehmens und des Bürgers festgemacht. Nachhaltigen, Kreislauf-orientierten Wirtschaftsprozessen gehört die Zukunft, ebenso wie Missions-orientierten Geschäftsmodellen mit einem klaren Wertbeitrag für die Gesellschaft. Selbst die großen Wirtschafts-Beratungen fangen an, diese Erkenntnis Ihren Mandanten nahezubringen. Der Chef der renommierten Unternehmensberatung McKinsey, Dominic Barton, hat im Jahr 2012 im Wirtschaftsmagazin Harvard Business Manager dieses Prinzip unter dem Begriff Shared Value propagiert und die Vorteile dieses Ansatzes ausführlich erörtert2.
Noch stehen wir am Anfang. Doch das Umdenken setzt auf allen gesellschaftlichen Ebenen ein. In diversen Blogs werden wirtschaftsethische Themen diskutiert. Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2010 die Enquete-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft« eingesetzt, deren Name bereits die neue programmatische Richtung unterstreicht und deren Abschlussbericht differenziert eine Orientierung hin zu nachhaltigem Wirtschaften fordert. Viele Unternehmen haben begonnen, ihr gesellschaftliches Wohlverhalten (Corporate Social Responsibility, kurz »CSR«) standardisiert in Nachhaltigkeitsberichten öffentlich bekannt zu machen. Und es bilden sich interessante Allianzen. So forscht beispielsweise der Autohersteller Ford mit dem Ketchup-Hersteller Heinz gemeinsam daran, wie man aus den Abfällen der Tomatenverarbeitung Kunststoffe für den Automobilbau herstellen kann.
Wir sind soziale Wesen, geprägt durch kooperativ agierende Familien und Sippen. Lernen durch Nachahmung war während unserer Evolution ein entscheidender Wettbewerbs- und Überlebens-Faktor. Deshalb reichen bis heute wenige Meinungsmacher aus, die Moden kreieren können und verändertes Verhalten initiieren. Um eine Masse zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, reichen nach Einschätzung einiger Experten häufig schon zehn Prozent der Akteure aus. Dieses Wissen ist ermutigend und sollte all jenen Ansporn sein, die es als ihre moralische Verpflichtung ansehen, durch ihr Verhalten unsere Welt für alle Mitglieder unserer Spezies lebenswert zu gestalten und unsere Lebensgrundlagen zu erhalten. Sollten sie sich dabei manchmal recht einsam vorkommen, dann lassen Sie sich derweil durch die Wort Mark Twains trösten: Menschen mit einer neuen Idee gelten solange als Spinner, bis sich die Sache durchgesetzt hat.
1 Heuer, Steffan: Geh hin zur Ameise und werde weise! Staatenbildende Insekten haben schon vor Jahrmillionen einen Königsweg zur Vermeidung von Krisen gefunden, in: Krisenmanagement Natur, hrsg. von Blüchel, Kurt G. und Sieger, Helge, 2009
2 Barton, Dominic: Zeit zu handeln, in: Harvard Business Manager, Edition 03/2012