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Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.):
Deutsche Zustände. Folge 8

ISBN: 3518126024
Erscheinungsjahr: 2010
Suhrkamp Verlag

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eit 2002 analysiert das Soziologen-Team des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung unter Leitung von Wilhelm Heitmeyer die Entwicklung von Vorurteilen gegen schwache Gruppen. Deutsche Zustände nennen sich die jährlich erscheinenden Ergebnisse zur »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit«. In Folge 8 steht die Finanz- und Wirtschaftskrise im Mittelpunkt der Betrachtung: Wie gehen Menschen mit Krisenerfahrungen und -befürchtungen um? Führen die Folgen der Krise auf dem Arbeitsmarkt und für den Staatshaushalt in Form einer Absenkung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen dazu, dass sich verstärkt feindselige Haltungen gegenüber bestimmten Gruppen durchsetzen?

In vergangenen ökonomisch schwierigen Zeiten hat das Forscherteam Auswirkungen auf das Ausmaß der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit festgestellt: So stiegen bis 2005 insbesondere die konkurrenzbasierte Fremdenfeindlichkeit und die Reklamation von Etabliertenvorrechten. Hervorgerufen wurde die Fremdenfeindlichkeit durch prekäre Arbeitsverhältnisse sowie mangelnde soziale Unterstützung. Während der Aufschwungphase auf dem Arbeitsmarkt nach 2005 ließen sich hingegen sinkende Werte feststellen. Aus dem Vergleich dieser beiden Phasen kann man demnach schließen, dass sich Krisen durchaus negativ auf das Ausmaß gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auswirken.

Schuldzuweisungen in der aktuellen Krise treffen vor allem »Banker und Spekulanten« des globalen Finanzsystems, die Folgen der Krise werden weniger mit ausländischen Bürgern in Verbindung gebracht. Kann man daher auch in der aktuellen Krise von ähnlichen Entwicklungen wie in der Krise auf dem Arbeitsmarkt bis etwa 2005 ausgehen? Zur Beurteilung dieser Frage trifft das Forscherteam rund um Wilhelm Heitmeyer die Unterscheidung zwischen Gruppen, die sich von der Krise betroffen fühlen, und solchen, für die das nicht der Fall ist. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist bei diesen beiden Gruppen, wie die Ergebnisse zutage bringen, unterschiedlich ausgeprägt. Dies legt nahe, dass die Betroffenheit eine Abwertung von Personengruppen wahrscheinlicher macht. Angesichts der Tatsache, dass sich fast die Hälfte der Befragten von der Wirtschaftskrise bedroht fühlt und 38 Prozent angeben, davon betroffen zu sein, ist dies eine alarmierende Erkenntnis.

Wilhelm Heitmeyer weist darauf hin, wie wichtig die Realisierung sozialer Kernnormen wie Solidarität, Gerechtigkeit und Fairness für die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft ist. Die Befragung lässt Desintegrationseffekte befürchten: 75 Prozent glauben, dass in Krisenzeiten die Solidarität mit Schwachen nachlasse und 60 Prozent sehen Werte wie Gerechtigkeit und Fairness durch die Krise gefährdet. Solche Befürchtungen scheinen auch gerechtfertigt zu sein: So äußerten beispielsweise über 60 Prozent der Befragten die Auffassung, in Krisenzeiten müssten zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden. Dabei klafft eine riesige Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Während ein Großteil der Menschen (90 Prozent) sich stärkeren Zusammenhalt und Solidarität in der Krise wünscht, glauben nur 43 Prozent, dass es tatsächlich zu einer Besinnung auf solche Werte kommen wird.

Deutsche Zustände bietet einen einzigartigen Blick darauf, wie die Krise von der Bevölkerung wahrgenommen wird. Gezeichnet wird ein Bild der fortschreitenden Entsolidarisierung der Gesellschaft. Dazu kommt, dass seit Jahren eine zunehmende Ökonomisierung bei gleichzeitigem Kontrollverlust der Politik zu beobachten ist. Deutsche Zustände ist somit auch ein Appell an die Politik: Sollen die Auswirkungen der aktuellen Finanzkrise auf die liberale Demokratie eingedämmt werden, so ist ein gründliches Umdenken notwendig. Angesichts der leeren Staatskassen kann die Integrationsleistung des Staates und der soziale Frieden nicht länger erkauft werden.