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Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.):
Deutsche Zustände. Folge 9

ISBN: 3518126164
Erscheinungsjahr: 2010
Suhrkamp Verlag

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eit 2002 untersucht ein Forscherteam rund um Wilhelm Heitmeyer, Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, die Ausmaße, Entwicklungen und Ursachen von Vorurteilen gegenüber unterschiedlichen Menschengruppen. Im Zentrum des Forschungsprogramms steht der Begriff der »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit«: Es geht um die Abwertung von Menschen aufgrund von ethnischen, kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, des Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder aus sozialen Gründen. Vorurteile aus all diesen verschiedenen Gründen haben einen gemeinsamen Kern, der sich als Ideologie der Ungleichwertigkeit erfassen lässt. Jährlich findet eine telefonische Befragung einer repräsentativen Auswahl der deutschen Bevölkerung zu diesen Themen statt.

In der neunten Folge des auf zehn Jahre angelegten Programms steht die Wirtschaftskrise mit ihren Folgen im Mittelpunkt der Betrachtung. Dabei wird der Blick vor allem auf die höheren Einkommensschichten gelegt und nach der Solidarität in unserer Gesellschaft gefragt. Welches Verständnis von Gerechtigkeit gibt es in Deutschland? Wem wird Unterstützung zugebilligt und wem nicht? Welche Auswirkungen haben das Gefühl der Bedrohung durch die Krise sowie die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft auf die Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen?

2010 stieg der Anteil derjenigen, die sich durch die aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen bedroht fühlen, weiter an und liegt bei 53 Prozent. Dabei fällt in diesem Jahr insbesondere die Entwicklung in den oberen Einkommensgruppen ins Auge: Bei den Besserverdienenden steigt der Anteil derjenigen, die meinen, weniger als ihren gerechten Anteil zu erhalten. Damit einher geht ein Anstieg der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in diesen Einkommensgruppen: Sozial ausgleichende Unterstützung für Personengruppen am Rande der Gesellschaft (z.B. Arbeitslose, Obdachlose) wird deutlich abgelehnt. Dabei fällt auf, dass Menschen, die eine ökonomistische Sichtweise teilen, das heißt Menschen nach ihrem Nutzen beurteilen, eher zur Abwertung schwacher Gruppen neigen. Umso mehr fällt dies ins Gewicht, als sich die ökonomistische Sicht auf die Dinge immer stärker verbreitet.

Deutlich zugenommen haben in der aktuellen Untersuchung die Betonung der Etabliertenvorrechte, das heißt die beanspruchten Vorrangstellungen von Alteingesessenen, sowie die Islamfeindlichkeit. Kaum verändert haben sich das Ausmaß von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sowie die Abwertung obdachloser und behinderter Menschen und Langzeitarbeitsloser. Dennoch ist 2010 immer noch fast die Hälfte (49 Prozent) der Deutschen der Ansicht, »es leben zu viele Ausländer in Deutschland« und 47 Prozent meinen: »Die meisten Langzeitarbeitslosen sind nicht wirklich daran interessiert, einen Job zu finden.« 31 Prozent plädieren für den Ausschluss obdachloser Menschen aus dem öffentlichen Raum. Eine erfreulichere Entwicklung nehmen die Entwicklung des Ausmaßes von Sexismus (seit 2002 fast kontinuierlich rückläufig) und die Abwertung homosexueller Menschen (seit 2005 rückläufig).

Die genauere Analyse dieser Umfrageergebnisse zeigt nun, dass solche Menschen eher zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit neigen, die sich von der Krise bedroht fühlen. Die Abwertung richtet sich offenbar vorrangig gegen mögliche konkurrierende Gruppen. Die Autoren heben in der vorletzten Folge der Langzeitstudie besonders hervor, dass ein deutlicher Anstieg der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in den höheren Einkommensgruppen zu verzeichnen ist. Besonders auffallend ist, dass Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus und die Abwertung von Langzeitarbeitslosen in allen Einkommensgruppen stagnieren – lediglich in der oberen Einkommensgruppe steigen solche Vorurteile. Hinsichtlich der Abwertung von Obdachlosen und Homosexuellen ergibt sich ein noch krasserer Gegensatz: Diese beiden Merkmale sinken tendenziell in den unteren und mittleren Einkommensgruppen, nehmen in den höheren Einkommensgruppen jedoch zu.

Die Reihe Deutsche Zustände zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass der Leser nicht mit den Umfrageergebnissen allein gelassen wird. Auch Folge 9 enthält wieder eine Reihe erläuternder Essays, die das große Ganze in den Blick nehmen. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse wird die Frage nach der Solidarität gestellt: Hat die Krise zu einer Entsolidarisierung geführt? Wird schwachen Gruppen stärker als früher die Unterstützung versagt? Hinsichtlich der Bereitschaft zur Unterstützung schwacher Gruppen gilt es zu differenzieren: Arme fordern mehr Unterstützung für Arbeitslose, aber weniger für Einwanderer. Insgesamt solidarisieren sich Personen mit geringerem Einkommen stärker mit Hilfebedürftigen, selbst wenn sie sich selbst von der Krise bedroht und benachteiligt fühlen.

Auch einen Zusammenhang zwischen dem herrschenden Gerechtigkeitsprinzip und dem Ausmaß von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit haben die Forscher ausgemacht: Die Mehrheit der Deutschen (78 Prozent) fordert eine Verteilung nach Leistung oder Bedarf. Wer den rechtmäßigen Anteil an Gütern an die individuellen Anstrengungen und Leistungen knüpft, stimmt eher fremdenfeindlichen Einstellungen und der Abwertung von Langzeitarbeitslosen und Obdachlosen zu. Dies sind genau jene Gruppen, denen eine mangelnde Leistungsbereitschaft bzw. -fähigkeit unterstellt wird. Das Bedarfsprinzip wird von immerhin 82 Prozent der Befragten befürwortet. Die Forderung nach der Sicherung der Grundbedürfnisse schützt vor Vorurteilen gegenüber schwachen Gruppen. Wer für Anspruchsgerechtigkeit, also die Zuschreibung von Ansprüchen auf der Basis tradierter gesellschaftlicher Werte (Vererbung, traditionelles Familiengefüge) eintritt (7,7 Prozent), der neigt stärker zu Sexismus und Homophobie. 15,5 Prozent neigen zum Gleichheitsprinzip, das die gleichmäßige Verteilung der zur Verfügung stehenden Güter vorsieht. Diese Gruppe tendiert mit etwas höherer Wahrscheinlichkeit zur Abwertung schwacher Gruppen.

Wilhelm Heitmeyers Deutsche Zustände sind eine aufschlussreiche Beschreibung der sozialen Wirklichkeit in Deutschland. Die neunte Folge bietet nicht nur die Analyse im zeitlichen Verlauf, sondern auch einen Vergleich der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit im europäischen Raum. Zahlreiche Fallgeschichten illustrieren die empirischen Ergebnisse. Man darf gespannt sein auf den letzten Band, der 2011 erscheinen wird. Kann sich der bereits ausgerufene wirtschaftliche Aufschwung auf das gesellschaftliche Klima auswirken? Oder wird die Krisenerfahrung zu einer weiteren Entsolidarisierung der Gesellschaft beitragen?